Ulrike Seyboth, Ingo Fröhlich und die Methode des ‚Atelier vagabond’ | 2022

Manche Künstler wechseln ihr Atelier jahrzehntelang nicht und können sich vielleicht nicht einmal vorstellen, jenseits davon zu arbeiten. Ihr gesamtes Œuvre entsteht an einem einzigen Ort. Das Prinzip ‚stabilitas loci’ ist die Voraussetzung ihrer Kunst; es gibt ihnen eine Sicherheit, die es ihnen erst erlaubt, künstlerisch mutige Entscheidungen zu treffen, ja es ermöglicht ihnen, als Grundlage hoher Qualität, konzentriertes Arbeiten. Andere Künstler hingegen streben nach häufigem Ortswechsel. Sie wollen ihre Kunst unter möglichst unterschiedlichen Bedingungen praktizieren, sich aber auch von einer immer wieder anderen Umgebung anregen und herausfordern lassen. Entsprechend achten sie darauf, dass ihre Werke gut transportabel und keinesfalls immobil an einem Ort sind.
Ulrike Seyboth und Ingo Fröhlich gehören nicht nur zum zweiten Typus, sie definieren diesen sogar neu. So steht ihr gemeinsames künstlerisches Konzept seit mehr als einem Jahrzehnt unter der Maxime ‚Atelier vagabond’, ist also ausdrücklich darauf angelegt, dass die beiden nie zu lange an einem Ort bleiben. Wechselnde Landschaften, unterschiedliches Licht, andere Menschen – das alles ist ihnen wichtig, um ihre Kunst voranzubringen.
Dabei sollte man sich vor voreiligen Schlüssen hüten. Wenn die beiden ihr Atelier an immer wieder anderen Orten – in Frankreich, Finnland oder der Schweiz, in einer Großstadt, auf dem Land, in den Bergen – aufschlagen, bedeutet dies nämlich keineswegs, dass ihre Kunst deshalb jeweils ganz anders aussieht. Vielmehr entwickelt sich Ulrike Seyboths Malerei und Ingo Fröhlichs zeichnerisches Werk sogar erstaunlich kontinuierlich, verändert sich also alles andere als sprunghaft. Statt ortsspezifisch und von den jeweiligen lokalen Bedingungen erkennbar geprägt, gar determiniert zu sein, kann sich ihre Kunst durch die vielen Ortswechsel im Gegenteil immer wieder neu bewähren und hat so nach und nach an Stärke und Universalität zugelegt. Die Gemälde und Zeichnungen machen sich also nicht nur in einem bestimmten Licht oder Ambiente gut, sondern kommen unter ganz verschiedenen Umständen gleichermaßen zur Geltung.
Die gemeinsamen Ortswechsel führen aber auch dazu, dass sich Ulrike Seyboth und Ingo Fröhlich umso stärker nicht nur auf das eigene Werk, sondern genauso auf das des Partners konzentrieren. Es bleibt das verlässliche Gegenüber, selbst wenn (und gerade weil) sich sonst immer wieder fast alles ändert. Das eine Werk fungiert als Maßstab für das andere, wobei die Malerin und der Zeichner zugleich so unterschiedlich arbeiten, dass sie sich weniger beeinflussen als vielmehr Resonanz geben. Daher haben beide bei aller Freiheit, die ihnen ihre räumliche Flexibilität ermöglicht, keine Unverbindlichkeit, gar Beliebigkeit zu befürchten; vielmehr werden sie im Vergleich und im Dialog mit dem Werk des anderen umso mehr zur Reflexion ihres eigenen Werks gebracht.
Die Formel ‚Atelier vagabond’ lässt sich daher als Methode zur sukzessiven Steigerung künstlerischer Qualität begreifen. Man überprüft etwas, das an einem Ort entstanden ist, an einem anderen, setzt es dort fort, variiert es, bereichert es um einen weiteren Faktor, der an früheren Orten keine Rolle spielte, setzt sich auch neu mit dem Werk des Partners und damit mit der eigenen Arbeit auseinander. Im Fall von Ulrike Seyboths Malerei heißt dies, dass sich auf ihren Gemälden formal höchst unterschiedliche Phänomene – also etwa kräftig getupfte Flächen, zart gestrichelte Partien, gestisch verriebene Farben und Drippings – versammeln. Ihre Herkunft mag noch so verschieden sein, ja einzelne dieser Phänomene mögen sich ursprünglich der Erfahrung eines bestimmten Malorts verdanken, aber auf dem Gemälde finden sie harmonisch, sorgfältig austariert zusammen, weil die Künstlerin sie gemeinsam Ort für Ort von neuem auf die Probe gestellt und ihre Beziehungen untereinander vielfach, unter wechselnden Verhältnissen ausgelotet hat. Je mehr formale Stilmittel sich Ulrike Seyboth im Lauf ihrer vielen Reisen erschlossen hat, desto besser hat sie diese zugleich miteinander zu kombinieren gelernt. Die häufigen Ortswechsel sind daher als einzige, große Konzentrationsübung, als ein Prozess fortwährender Läuterung zu verstehen.
Bei Ingo Fröhlichs Zeichnungen hat die Methode des ‚Atelier vagabond’ hingegen zu einer anderen Form der Konzentriertheit geführt. Jeder neue Ort erlaubt ihm die Rückkehr an einen Nullpunkt, eine Neubesinnung auf die elementaren Prinzipien des Zeichnens. Oft ist es dann eine markante Eigenheit der jeweils umgebenden Landschaft, die er aufgreift und abstrahiert, um sie in einem größeren Zyklus von Zeichnungen zu konjugieren. Auch das ist eine Form der Läuterung, und am nächsten Ort beginnt die Orientierung zwar von Neuem, aber im Lauf der Jahre hat Ingo Fröhlich dadurch ein so hohes Maß an Klarheit und Sicherheit gewonnen, dass seine Zeichnungen weit mehr als Ausdruck einer momentanen Natur- oder Lebenserfahrung sind. Vielmehr handelt es sich um allgemeingültige Bildformeln, die letztlich unabhängig von ihrem Entstehungsort überall zum Einsatz kommen können.
Derart unter wechselnden Bedingungen sich entwickelnde künstlerische Werke wie die von Ulrike Seyboth und Ingo Fröhlich werden letztlich also ortsunabhängig. Je mehr die beiden sich auf möglichst unterschiedliche Orte und ihre jeweiligen Gegebenheiten einlassen, desto stärker emanzipieren sie sich paradoxerweise zugleich davon. Ihre ohnehin schon mobilen Gemälde und Zeichnungen kann man daher bedenkenlos – und voller Neugier – von Ausstellung zu Ausstellung schicken. Sie werden sich in einem ‚White Cube’ genauso wie in einem Abbruchhaus, im Freien genauso wie in einem Wohnraum behaupten und ihre ästhetische Kraft überall dort demonstrieren, wo man sie einem Publikum präsentiert. Ja, was im Namen der Methode des ‚Atelier vagabond’ entstanden ist, hat das Zeug dazu, überall auf der Welt zuhause zu sein.