Katalogtext zur Zusammenarbeit und Ausstellung von Ulrike Seyboth & Ingo Fröhlich in den Musées de Sens (Bourgogne) und der Guardini Galerie Berlin, Distanz Verlag | 2020/2021

Paarweise Allianzen von Künstlern und Künstlerinnen sind eine relativ junge Erscheinung in der Kunstgeschichte, etwa so alt wie die bürgerliche Gesellschaft und der moderne Kunstbegriff. Offensichtlich sind sie ein Ergebnis der Individualisierung der Kunstpraxis und der Emanzipation der Frauen; entsprechend leidet die Anerkennung von solchen Verbindungen unter eben jenen Vorurteilen, die mit diesen Entwicklungen in die Welt kamen. Selbst die partnerschaftliche Zusammenarbeit von Paaren wie Christo und Jeanne-Claude oder Anne und Patrick Poirier wird immer wieder die letztlich irrelevante Frage provozieren, wem von beiden die Hauptrolle im Schaffensprozess zuzuschreiben ist. Noch weiter ins Abseits droht die Diskussion zu geraten, wenn es um Paare von Künstlerinnen und Künstlern geht, die selbständig scheinbar ähnliche Absichten und Darstellungsformen verfolgt haben, wie Hans Arp und Sophie Taeuber oder Lee Krasner und Jackson Pollock. Dann nämlich verführt die äußerliche Vergleichbarkeit der Mittel und Intentionen zu der Annahme einer gemeinsamen Basis, auf der über den Rang der geschaffenen Werke entschieden werden könne; und mischt sich dazuhin das redliche Verlangen ein, die Leistung von Künstlerinnen aus dem Schatten der kunsthistorischen Männereloge zu holen, ist es um das Kunsturteil meist endgültig geschehen.

Im Falle von Ingo Fröhlich und Ulrike Seyboth greift keines dieser Muster. Die künstlerischen Mittel und Verfahrensweisen der beiden sind grundverschieden: Er zeichnet, zieht Striche und Linien in einer unemphatischen, konzeptionell kontrollierten Manier; sie malt, setzt Flecken und Pinselspuren mit einer fast überschäumenden, sprunghaften Spontaneität. Eine größere Gegensätzlichkeit der Temperamente und Arbeitsweisen lässt sich kaum denken. Und dennoch arbeiten beide seit einem Jahrzehnt eng zusammen, verbrachten gemeinsame Arbeitsaufenthalte in verschiedenen Regionen Europas und haben sich gegenseitig in ihrer künstlerischen Entwicklung gefördert und gesteigert. Das mag angesichts des gängigen Konkurrenzverhaltens unter Künstlern wie ein liebenswürdiger, etwas weltfremder Sonderfall erscheinen; aber nur solange, wie der Kampf um Anerkennung als die eigentliche und einzige, leider unerlässliche und eher lästige Form des Wettstreits in den Künsten angesehen wird. Ein kläglicher, der Dominanz des Kunstmarkts geschuldeter Irrtum. Denn die Alternative ist nicht monomanische Selbstüberzeugtheit oder die friedfertige Künstlerkommune. Rivalität, richtig verstanden, ist vielmehr eine elementare Triebfeder des Kunstschaffens. Rivalisieren heißt nicht, sich durchsetzen, andere ausstechen wollen, sondern zielt auf ein Übertreffen in der Sache. Das Wort ist ursprünglich ein Rechtsbegriff aus der altrömischen Bauernkultur: rivales sind Mitbenutzer eines gemeinsamen Wasserlaufs (rivus). Nur törichte Anlieger graben einander das Wasser ab, statt das Beste aus der Nachbarschaft zu machen.

»Ich zeichne die Zeit, du malst den Moment«, lautet die Parole, die Ingo Fröhlich für die Zusammenarbeit mit Ulrike Seyboth gefunden hat. Die Ausgangslage ist für beide dieselbe, die weiße Fläche, wenn auch nicht im gleichen Sinne wie für andere Maler und Zeichner. Die Abkehr von dem verbreiteten Habitus, die weiße Leinwand oder den weißen Bogen Papier lediglich als Oberfläche, als zweidimensionale Unterlage für ein Bild aufzufassen, ist die erste maßgebliche Vorentscheidung ihrer Arbeitsgemeinschaft. Weiß ist nicht bloß eine neutrale Grundierung. Die Strahlkraft dieser Farbe verleiht dem materiellen Bildträger jeweils eine ganz bestimmte, buchstäblich »untiefe« Räumlichkeit: leer, aber undurchsichtig; dicht und dennoch offen; gleichförmig bei völliger Instabilität. Man kann in diesen untiefen Raum feste Dimensionen einziehen, Formen projizieren, eine Figur-Grund-Ambivalenz konstruieren und dergleichen mehr. Aber man kann auch die Leere, Dichte und Fluidität der weißen Bildfläche selbst als etwas Formbares, als ein plastisches Medium betrachten, wie Ingo Fröhlich und Ulrike Seyboth das tun. Dann ist jeder Strich eine Spur, die so alleine nicht stehen bleiben kann, und jeder Fleck eine Markierung, die ihren Ort erst noch finden muss, das heißt: der Anfang einer Art von Dialog mit ungewissem Ausgang.

Als einzelne verlieren sich Linien gern im Dienst an etwas anderem, Signifikanterem. Die eine Linie strebt ins Unendliche, setzt Grenzen, schließt sich zur Form, erschöpft sich in Umrissen – und verschwindet so, als Linie. Ingo Fröhlich wirkt dieser Tendenz durch Wiederholung entgegen, indem er Linien in parallelen Formationen vervielfacht und damit in der Ausdehnung der weißen Fläche dazu bringt, gegen die gerade Verlaufsrichtung in die Breite zu gehen. Dadurch entstehen Lineamente, die als Bewegungsfelder wahrgenommen werden, statt in Formen zu erstarren. Die Bandbreite der Assoziationen reicht dabei von Wellenbewegungen und Strömungsbildern bis hin zu organischen Prozessen des Schwellens, Saugens, Faserns, Flechtens. Für diese Stimulation unserer Einbildungskraft ist entscheidend, dass die Wiederholung der Linien keinem exakten Kalkül folgt. Jede Linie ist vielmehr ein frei gezogener Strich, auch wenn gelegentlich, vor allem für Wandbilder, Schablonen als Hilfsmittel dienen. Denn es kommt nicht in erster Linie auf die Präzision der Linien an sich an, sondern auf die Beachtung der Intervalle – nach der schönen Lektion, die Picasso seinem langjährigen Gefährten Jaime Sabartés erteilte: Wenn Du einen perfekten Kreis zeichnen willst, achte auf die Distanz zum Mittelpunkt, nicht auf die Linie – und selbst dann wird er nie vollkommen werden! Es sind die Abstände zwischen den Linien, die weißen Zwischenräume in Ingo Fröhlichs Wiederholungsstrukturen – sie bringen eine Proportion von Abweichung und Ähnlichkeit zur Geltung, die aus dem räumlichen Neben- und Auseinander ein dynamisches Nach- und Miteinander macht, einen kumulativen Zusammenhang in der Zeit.

»Ich zeichne die Zeit, du malst den Moment.« Nichts in Ulrike Seyboths Bildern hängt zusammen, Zusammenhanglosigkeit scheint geradezu das Kompositionsprinzip ihrer Malerei zu sein. Plötzlichkeit regelt die Disposition des informellen Vokabulars. Dennoch erscheint die Streuung der Flecken, Tupfen, Wisch- und Kritzelspuren keineswegs zufällig oder gar willkürlich, expressiv in einem subjektiven Sinne. Es stiebt, wirbelt, prasselt, ballt sich zusammen auf Ulrike Seyboths Leinwänden und Papierarbeiten, ohne dass ein Ausdruckswollen dahinter erkennbar wäre. Die Heftigkeit, mit der die Bilder beim Betrachter ankommen, verdankt sich vielmehr der strahlenden Helligkeit, aus der die Pinselspuren auftauchen wie freischwebende Ausblühungen einer verborgenen Energie – und einer Farbigkeit, die sich gegen diese Strahlung zu behaupten sucht. Der Kontrast Blau-Rot, der in unterschiedlichen Gewichtungen das Kolorit der Bilder bestimmt, galt schon in der gotischen Glasfensterkunst als Hoheitsformel, deren Intensität geeignet schien, im Dunkel der Kathedralen ein dem Tageslicht überlegenes Licht erstrahlen zu lassen. Zu dem auffallenden Wechsel zwischen einer Rot- und einer Blaudominanz gesellt sich in jüngerer Zeit, zumal in den Arbeiten auf Papier, eine Erweiterung des Pinselduktus durch Stempelspuren und eine spezielle Form des Collagierens. Die Malerin schneidet bestimmte Stellen aus aufgegebenen Arbeiten aus und arbeitet diese »pièces perdues« – ihr Terminus – so vollkommen in die spontane Malgestik ein, dass dichtgedrängte, vor überbordender Farbigkeit und formalem Wildwuchs geradezu berstende Bouquets entstehen. In der Tat, gibt es nicht Momente in der Vergangenheit, die wieder auferstehen zu lassen die Erfahrung von Gegenwart reicher und stärker macht?

Das beantwortet freilich noch nicht die Frage, worin die Gemeinsamkeit dieses Künstlerpaars liegt. Dass beide den gleichen Strom »Kunst« in Anspruch nehmen, reicht als Antwort nicht. Sollte es je einen Rechtstitel auf gemeinschaftliche Nutzung gegeben haben, so ist er schon lange erloschen. Grenzenlose Ausbeutung hat den Strom träge und trüb werden lassen, die alte Rivalität hat ihre Verbindlichkeit verloren. Ingo Fröhlich und Ulrike Seyboth haben sich vielmehr zusammengefunden in dem Bestreben, die erstarrten Verhältnisse wieder in Fluss zu bringen. Dass sie als Künstler auf gegenüberliegenden Ufern hausen, hat sie für diese Aufgabe eher prädestiniert. Ingo Fröhlich hat vor zwanzig Jahren in Berlin ein Projekt initiiert, in dem Ulrike Seyboth ihren Traum von einem »Bateau-Lavoir« wiedererkannte: ein Künstlerhaus, Ateliergebäude und Veranstaltungsort zugleich, wo reguläre Mieter und temporäre Hospitanten verschiedenster Herkunft und Ausrichtung frei miteinander arbeiten, sich austauschen und vor die Öffentlichkeit treten können. Neben dieser festen Adresse haben beide immer wieder längere Arbeitsstipendien im Norden und Süden Europas wahrgenommen, die sich in unterschiedlicher Weise in ihrer Arbeit niedergeschlagen haben. So hat in Island vor allem die Landschaft den Zeichner Ingo Fröhlich in ihren Bann gezogen, während bei Ulrike Seyboth im Licht des hohen Nordens die Präferenz für die Farbe Rot zugunsten einer kühlen blauen Gestimmtheit gewichen ist.

Der eigentliche Ruhepol in diesem künstlerischen Nomadisieren ist jedoch Frankreich, wo Ulrike Seyboth vor ihrer Verbindung mit Ingo Fröhlich zehn Jahre lang gelebt hat. Das Projekt »Je dessine le temps, tu peins l’instant« für die Musées de Sens ist zweifellos der ambitionierteste gemeinsame Auftritt des Künstlerpaars bislang. Der Plan, die Struktur des Rosettenfensters am Südportal der Kathedrale Saint-Étienne in einer monumentalen Bodenzeichnung auf der Cour épiscopale zu wiederholen, ist nicht nur ein kühnes formales Unterfangen. Die Umsetzung des zeitlosen geometrischen Maßwerks von Martin Chambiges in ein dynamisches ebenerdiges Lineament vollzieht zugleich die inhaltliche Verwandlung eines hochaufragenden Symbols der Ewigkeit in die Sphäre irdischer Zeitlichkeit. Wie werden die Besucher des Hofes diese Transfiguration annehmen? Werden sie davor zurückscheuen, die Zeichnung von Ingo Fröhlich zu betreten – oder werden sie die rhythmische Spiegelung des style flamboyant als eine Art geistiger Tanzfläche annehmen? Nur wenige Schritte weiter lädt Ulrike Seyboth zu einem ähnlichen Wechsel der Anschauungsebenen ein. Wer sich der Orangerie nähert, durchschreitet zunächst einen Garten von zauberhafter floraler Üppigkeit. Parterres und Rabatten von Blumen, Stauden, Sträuchern in sorgfältig ausgesuchten und gruppierten Farben säumen die Wege und laden zum Verweilen ein, ehe man die Räume der Orangerie betritt, wo die Besucher Salven von Ulrike Seyboths neuen Bildern erwarten, die der Opulenz der Gartenkunst in nichts nachstehen. Bedürfte es eines passenden Namens für diesen gemeinsamen Auftritt in historischem Ambiente, wäre kein langes Nachdenken nötig: Le Maître de la Cour et La Belle Jardinière.