»Das Wichtigste ist die Kraft, sich zu konzentrieren. Ein Leben ohne die Kraft zur Konzentration ist, als ob man die Augen öffnete, ohne zu sehen.« Haruki Murakami, Schlaf

In der Kraft zur Konzentration auf Farbe und Linie, ganz aus der Geste des Körpers heraus, als Impuls des Moments im Dialog mit der Leinwand oder in erdachten Ordnungen mit dem Strich der Linie folgend, entstehen die Arbeiten von Ulrike Seyboth und Ingo Fröhlich. Leere offenbart sich in der Fülle und Fülle gleichsam in der Leere. Es ist ein Prinzip des Zen-Buddhismus, das von der gleichzeitigen Existenz von Sein und Nichts ausgeht und dem sich die beiden künstlerischen Ansätze anzunähern versuchen. Es sagt etwas aus über den Umgang mit Fläche und Raum und wie durch das Ausbreiten von gewachsenen Flächen im Bild, ob mit Farbe oder Bleistift, die Leere Form annimmt. Der Zwischenraum wird zur Gestalt. Es ist eine Art Vexierspiel, changierend zwischen Leere und Gesetztem. Ihre Werke – so unterschiedlich sie auf den ersten Blick wirken – hängen in der Berliner Ausstellung nebeneinander und sich gegenüber, sie treten miteinander in Wechselwirkung, beginnen zu schwingen, Impulse weiterzugeben und sich zu verwandeln. Die grafischen Rhythmen, die in Ingo Fröhlichs wogenden Linien wie Wasser langsam in Bewegung geraten, werden von Ulrike Seyboths farbig kraftvollen Kondensaten aufgenommen und erheben sich als expressive Klangwolke.
Malerei und Zeichnung – diese uralte Verbindung – treten in dieser Ausstellung in einen sensiblen Dialog miteinander. Ein Zwiegespräch zwischen Rhythmus und Duktus, Dichte und Leere, Fläche und Raum.

Die Malerin Ulrike Seyboth empfängt mich in ihrem sonnendurchfluteten Atelier zwischen ihren farbenprächtigen großformatigen Ölgemälden. Es ist eine Symphonie aus Rot, Orange und Rosé. In der Mitte des Raumes steht ein kleiner Tisch mit Erdbeeren und Madeleines au thym und wir trinken Crémant – fast wie in Octon auf der Place Paul Vigne. Der kleine Ort Octon am Lac du Salagou im Languedoc ist das geliebte Domizil, welches das Künstlerpaar seit vielen Jahren ins Herz geschlossen hat. Wir sprechen über die Malerei und Frankreich, über die geplante Ausstellung in Sens und schauen auf ihre Bilder. Währenddessen gleiten zarte Schatten von filigranen Zweigen poetisch über das milchige Matt der Atelierfenster und tauchen alles in eine sommerliche Leichtigkeit.
Aus der Vielschichtigkeit ihrer Malerei springt mir das Rot in seiner Intensität entgegen. Es ist voll von beglückender Energie. Die Farbe Rot, als magische Farbe seit jeher, ist wie Schwarz und Weiß bereits in den vorzeitlichen Höhlen wie der Grotte de Chauvet zu finden. Sie ist damit unweigerlich an den Ursprung menschlichen Seins gebunden und tief im Lebendigen verwurzelt.
Ulrike Seyboth malt mit verschiedenen Pinseln, mit ihren Händen, mit Stiften und Kreiden, druckt farbige Formen und findet intuitive Linien. Sie setzt eine erste Spur, eine écriture, und folgt dieser Linie mit Neugier und dem ganzen Körper in tänzerischer Bewegung über die Leinwand hinaus. Am Anfang war das Wort, ein Zeichen, eine Geste. Ihre Bilder entstehen im prozesshaften Dialog mit dem bereits Gemalten. Gesetzte Spuren inspirieren immer wieder zu neuen Ausgangspunkten, bis sich in der malerischen Befragung der Leinwand durch Aktion und Reflexion das Bild zeigt. Oftmals arbeitet sie an mehreren Gemälden gleichzeitig, als eine Öffnung in die Unendlichkeit, in die Unendlichkeit malerischer Möglichkeiten. Und gleichsam offenbart jedes Bild das Abenteuer einer Reise in das eigene Innere der Malerin.
In ihrer experimentierfreudigen, vom Abstrakten Expressionismus inspirierten Malerei ist sie immer wieder dabei, das künstlerische Grundvokabular neu zu erfinden und die malerischen Grenzen zu befragen und auszureizen. Vom mutigen Auswaschen der Farbe bis hin zu großflächigen Übermalungen sucht sie in jedem Bild ein équilibre, die Balance der Ganzheit. Neben den intensiven Couleurs benutzt Ulrike Seyboth die Farbe Weiß in all ihren Schattierungen, um Gezeichnetes und Geschichtetes teilweise wieder abzudecken. Weiß als diaphaner Übergang scheint mit dem Prozess der Transformation verbunden zu sein als eine Grenzüberschreitung vom Sichtbaren zum Unsichtbaren, vom Materiellen zum Spirituellen, vom Bewussten zum Unbewussten. Ulrike Seyboths Bilder lassen existenzielle Emotionen spürbar werden. Und ebenso fangen sie das Licht der Welt ein, sei es unterwegs mit dem Atelier vagabondoder im Atelier in Berlin. Ulrike Seyboth arbeitet seriell. 2016 entstand während eines Aufenthaltes im Salento, im Süden Italiens, das Bild IONIAN SEA, das den Anfang einer umfangreichen Serie bildet. Über zehn großformatige Gemälde folgten. Diese Malereien – ein Universum aus Schwüngen, aus Kreisen, Kurven und Flecken, aus Spuren – türmen sich vor uns auf wie fantastische Wolkenbilder, wie ein Himmel voller Farben und ekstatischer Momente, wild und zärtlich, ungebändigt und still. Ihre Farbigkeiten wandeln sich im Verlauf ihrer Entstehung. Diese feinen Verschiebungen und Farbbewegungen werden beim Zurückschauen auf die vorhergehenden Bilder sichtbar. Die Proportionen ändern sich, ihre Gewichtungen, ihre Verteilungen und ihr Duktus.
Jede Serie birgt ihren eigenen Charakter und die Bilder folgen ihren eigenen Gesetzen. In der kleinformatigen Serie études, 2015/16, entdecken wir die großartige Kraft und Ausdrucksstärke des Pinselstrichs in besonderer Konzentration. Es ist eine Reihe von dichten Farbschichtungen, gemalt mit einem intensiven Pinselstrich. Doch es gibt auch sehr leichte, fast kalligrafisch laszive Spuren, wie zum Beispiel in der Serie Snow Tracks, 2012–2015.
Parallel zu ihren Gemälden auf Leinwand entstehen seit 2017 farbige Collagen, die sie aus verworfenen Papierarbeiten als pièces perdues ausschneidet, zu kleineren und größeren Kompositionen legt und klebt, übermalt und zusammensetzt. Die sechzehnteilige Arbeit Gymnopédie en bleu, 2019, ist eine Hommage an Eric Satie, der in seinem gleichnamigen Klavierstück sowohl Stilelemente der Gregorianik als auch der Salonkultur miteinander verband. Während Saties Gymnopédies, 1888, durch die stetige Wiederkehr weniger Akkorde berührt, die mit einer einfachen und ruhigen Melodie verbunden wird, sind es in den Collagen von Ulrike Seyboth wiederkehrende Fragmente und Farbinseln, die zu einer immer wieder neu geschaffenen Gesamtkomposition führen. Sie eröffnen ein Universum unendlicher Vielfalt und Schönheit, schöpfen aus ihrem eigenen malerisch zeichnerischen Kosmos. Darin spiegelt sich das freudvolle Wechselspiel unendlicher Variationen mit Zufälligkeiten wider. Fall und Zufall begegnen sich auf dem Papier.

Während Ulrike Seyboth in ihren Arbeiten die komplexen Zusammenhänge von Licht und Farbe untersucht, analysiert Ingo Fröhlich mit den Mitteln und Möglichkeiten der Zeichnung die Natur und die Landschaft, ihre Bewegung und Veränderung. Dem Zeichnen als komplexem Vorgang geht ein jahrzehntelanges Suchen und Erkennen voraus, bevor die Vorstellungen über die Bewegung der Hand auf dem Papier Gestalt annehmen. Die Arbeiten Ingo Fröhlichs widmen sich systematisch-konzeptuellen Erkundungen der Zeichnung über die Grenzen des Papiers hinaus. Dabei spielen Zeit und Raum ebenfalls eine wichtige Rolle. Der Titel Strich zur Linie, 2021, der gleichnamigen Wandzeichnung in der Guardini Galerie verweist auf ein wesentliches zeichnerisches Prinzip Ingo Fröhlichs in seinem vielschichtigen Œuvre. Aus einem tiefsinnigen subtilen Abtasten erwachsen im Prozess des Zeichnens Erkenntnisse zur Wahrnehmung und Transformation von Welt, die in der Linie ihre Gestalt finden. »Zeichnungen sind Konzentrate von Zeit und Raum, Zukunft und Vergangenheit, psychischer, geistiger bis metaphysischer Erfahrung und Denken.« (Lucie Beppler)
Wir saßen in der Guardini Galerie in Berlin beim Ausstellungsaufbau zusammen, ruhten kurz aus. Ingo Fröhlich griff nach einem Stück weißer Kreide und begann, einem inneren Impuls folgend, mit ruhiger Hand auf der schwarzgestrichenen Wand einen Strich zu ziehen. Leicht geschwungen zeichnete er eine Linie, es folgten eine zweite, eine dritte, eine vierte. Der Abstand der ersten Linie zur zweiten gab das Intervall vor. Diesem Rhythmus folgend, zog er Linie um Linie. Die Kreide hinterließ weiße, flächige Spuren aus vielen kleinen Kreidepunkten, die sich zu den Rändern hin unregelmäßig öffneten. Ein gleichmäßiges raues Geräusch begleitete jede Bewegung der Kreide auf der Wand, jedes Ziehen einer Linie. Strich zur Linie so lautet der Titel dieser Raumzeichnung.
Linien verwandeln die Fläche. Sie spielen mit Raum, Tiefe und Illusion. In einer zweiten Wandzeichnung nahm Ingo Fröhlich die im Raum vorhandenen Lüftungsrohre und deren Wicklungen auf und führte diese nunmehr zweidimensional als Zeichnung in Kreissegmenten von einem Raum in den nächsten, vom Obergeschoss in das Untergeschoss an der Wand fort.
Als ich das Atelier von Ingo Fröhlich in der Berliner Torstraße 111 an einem kühlen Wintertag zum ersten Mal betrat, flackerte ein Feuer im Ofen, die Teekanne stand darauf. Ingo Fröhlich schenkte ein und legte Scheit um Scheit nach. Von den Wänden herab hingen seine großformatigen Zeichnungen in einem eigens dafür erfundenen Hängesystem. Immer wieder wurde umgehängt, um neue Diptychen und Triptychen von Zeichnungen zu präsentieren. Strich um Strich gearbeitet aus dem Rhythmus der Bewegung heraus – so wie in seinen Raumzeichnungen. Darin öffnet sich ein Kosmos schier unendlicher Möglichkeiten der Zeichnung, eines unendlichen Vokabulars im Notieren von erfahrener Welt. Das Atelier ist für ihn ein Raum der Erkundungen von Linien und Formen, von Zeichnungen und Installationen, Ordnungen und Anordnungen, von Wegen und Umwegen. Hier atmet die Freude und Lust am Experimentieren und Variieren. Die Wände sind angefüllt mit Skizzen und Notationen. Das Atelier ist ein unverzichtbarer Ort der Erkenntnis.
Wir stehen vor seinem großformatigen Triptychon Windstriche, 2019, einer zeichnerischen Partitur von Bewegungen, Strichungen von Windströmungen, die Ingo Fröhlich in einen Duktus von bewegten und kräftigen Strichen übersetzt hat. Sie gehen über den Rand des Zeichenblattes hinaus und zeigen selbst in ihrer monumentalen Dreiteiligkeit immer nur einen Ausschnitt des Universums. Er folgt in seinen Zeichnungen dem Wechselspiel der Natur, ihren Erscheinungen und Formen, ihren Phänomenen und Gesetzmäßigkeiten, ihrer unendlichen Erscheinungsvielfalt. Es ist ein seismografisches Abtasten von Struktur und Schraffur und die Übersetzung und Abstrahierung zur Linie.
Das Spektrum seiner Zeichnungen reicht von streng konzeptuellen Kompositionen auf Papier und im Raum bis hin zu leichthändig lockeren Landschaftsskizzen, die auf Autofahrten quer durch Europa oder in stiller Abgeschiedenheit während des Atelier vagabondentstanden. Die Bleistiftskizzen seiner »Roadmovies« sind Ausblicke durch die Frontscheibe des Busses, die sich wie gezeichnete Filmstills aneinanderreihen. In jenen tagebuchartigen Partituren schreiben sich Moment und Zeitlichkeit durch rasch gesetzte Striche in großer Intensität und Dichte ein.
Ingo Fröhlich konjugiert seine Bildideen mit konzeptueller Kontinuität durch, in Reihungen und Paarungen, die Differenz des Gleichen, die Themen immer wieder variierend.

Seit zehn Jahren begeben sich Ulrike Seyboth und Ingo Fröhlich gemeinsam auf Reisen. Sie brechen als Atelier vagabond in die Ferne auf. Meist zieht es sie in den Süden, nach Frankreich, nach Italien. Aber auch in den hohen Norden, nach Island und Finnland, unternahmen sie ihre gemeinsamen Arbeitsreisen. Dieser Aufbruch verheißt, den Ballast des Alltags hinter sich zu lassen und nur das Nötigste mitzunehmen: Papier, Leinwand, Farben und Graphit. Während sie in Berlin an unterschiedlichen Orten in ihren eigenen Ateliers arbeiten, teilen sie sich unterwegs ein gemeinsames Atelier, verbinden sich mit dem Ort und richten sich gemeinsam ein. Die entstehende Freiheit kann gemeinsam gefüllt werden mit lichtdurchfluteten Erlebnissen, Begegnungen und künstlerischer Arbeit. Die Fremde aktiviert eine andere Wachheit, sie setzt Neugier und eine besondere Offenheit gegenüber den Menschen frei. Leicht und unbeschwert entsteht während des Vagabundierens eine Fülle neuer Arbeiten. Unterwegssein heißt, sich auf den Weg zu machen, zu suchen, zu ergründen, zu zweifeln und Neues zu wagen. Dieser Sehnsucht, die dem Atelier vagabond innewohnt, gesellt sich der Traum hinzu, einmal einen Ort für das gemeinsame Leben und Arbeiten – zur Kraft und Konzentration, vielleicht im südlichen Licht Frankreichs – zu finden. Ein Haus mit Atelier und blühendem Oleander, pink und rosé. Einen Ort der Inspiration.