Katalogtext in »Je dessine le temps, tu peins l’instant«, Ein Gespräch zwischen Frizzi Krella, Ulrike Seyboth und Ingo Fröhlich, Distanz Verlag | 2021

»Es ist wirklich eine Schande. Das Sumpfland zu Wüste geworden. Die Wüste verheert. Und was mit den Tieren passiert ist. Und den Menschen und so. Aber es gibt eine Reihe anderer Aspekte zu berücksichtigen – politische, wirtschaftliche, wissenschaftliche –, die du nicht verstehen würdest. Du bist eine Vagabundin. Eine Künstlerin.«
»Stimmt. Ungebunden. Frei wie ein Vogel.« …
»Wie ich sehe, hattest Du schon viel mit Künstlern zu tun.«
»Tut mir leid, wenn ich dich beleidigt habe.«
»Herr, o Herr, gib mir Kraft! Was für Narren sind diese –«
»Zeter nicht so herum. Ich war das schließlich nicht. Nicht ich habe die Wüste zugrunde gerichtet. Die Tiere umgebracht. Die Rekruten abgeschlachtet. Ich habe weder die Bibliotheken abgefackelt noch das Museum mit der Antikensammlung geplündert.« (1 Susan Sontag, 1986)

Frizzi Krella: Ich zeichne die Zeit, du malst den Moment (Je dessine le temps, tu peins l’instant) – heißt Euer Titel, unter dem Ihr gemeinsam arbeitet und ausstellt. Seit zehn Jahren seid ihr zudem als Atelier vagabond auf Reisen. Was bedeutet für euch Atelier vagabond?
Ulrike Seyboth: Atelier vagabond ist mehr als ein ästhetischer Kunst(Be)griff, um unsere gemeinsamen Studienreisen zu kontextualisieren. Es geht um das Unterwegssein an sich. Darum, was ein Vagabunden-Atelier in unserem Inneren auslöst, ohne dabei eine spätbürgerliche Romantik des Künstlerateliers reanimieren zu wollen. Da ist einerseits die Tatsache, dass Ingo und ich mehr und mehr auf der Suche nach jener Freiheit sind, die es hier in Berlin in den 1990er Jahren einmal gab, aber die für uns in dieser Stadt immer weniger erlebbar wird. Andererseits, und auf einer tieferen Ebene, geht es darum, über unsere Suche mit Hilfe der Kunst das Risiko einzugehen, bestenfalls zu uns selbst zu finden. Die große Möglichkeit im künstlerischen Arbeiten liegt ja darin, dass sich die eigene Handlung direkt über das Werk reflektiert und man als Künstler über das Wechselspiel des Agierens und Reflektierens den Arbeitsprozess und damit das Werden eines Werkes unmittelbar bestimmen und lenken kann. Wenn ich diesen Ansatz erweitere und auf mich beziehe und davon ausgehe, dass ich ein formbares Wesen bin, kann sich dieser Prozess der Bewusstwerdung ausdehnen und mir auf der Suche nach meinem wahren, inneren Kern helfen. Schön, dass ich in Ingo einen Menschen finden konnte, mit dem ich diese Sehnsucht so tief teilen kann.
Ingo Fröhlich: Vagabundieren bedeutet auch, die Sicherheitszone und eingetretene Wege zu verlassen. Um loszugehen braucht es den Mut, kein konkretes Ziel zu haben. Kraft und Willen, um Unbekanntes im Außen wie auch im Inneren zu erforschen. Es gibt eine Verbindung zwischen dem Ungewissen auf Reisen und dem Unbekannten in der künstlerischen Arbeit. Diese Neugier in der Kunst und Freude am Reisen ist tatsächlich ein Motor unseres Werkes und Beisammenseins.
US Beim Atelier vagabond geht es nicht nur um die stringente Suche nach »etwas« ganz Speziellem, Definiertem. Eher darum, mit Beginnerenergie die Spuren einer bisher unbenannten Sehnsucht in sich selbst zu entdecken, diese freizulegen und sich den gesellschaftlichen Bewertungen und Erwartungen von Zeit zu Zeit zu entwinden. Für mich stellt das Image des vagabonds nicht nur die auf ihn projizierte Aussteigersehnsucht oder Abenteuerlust dar, sondern auch das Ortlose, Suchende, Verstoßende, Wilde, Dreckige, Unberechenbare, Heimatlose, Fragile und Einsame. Sind wir nicht alle irgendwie Vagabunden?
Künstler sollten immer vagabonds sein! Grenzgänger, Sehende, eine Medea, ein Dionysos. Forscherin, Beobachter, Querulantin, Hungriger, Verzweifelte, die glücklichsten Menschen der Welt. Alles liegt darin. Auch ziellos sein zu dürfen, wie es die Kunst an sich ist. Dass man Künstlern, ähnlich wie den Vagabunden, oftmals negativ konnotiert Müßiggang, Nonkonformismus oder Kompliziertheit unterstellt, ist bedauernswert. Denn entstehen nicht gerade im Müßiggang und in der Kontemplation oftmals die besten Ideen? Ich meine im wahrsten Sinne der Worte idéa und inspirare. Treffen sich nicht an einer ganz bestimmten Schnittstelle Künstler und Penner? Als Schamanen zwischen Wirklichkeit und Traum. Die Aufgabe der Kunst ist es doch, über Schmerz und Freude zugleich das Transzendente bewusst, sichtbar, begreifbar zu machen.
FK: Ihr entdeckt die Welt gemeinsam und arbeitet unter fremden Himmeln in unterschiedlichen Gegenden Europas. Wo und wie fing Eurer gemeinsames Reisen an?
US Von 1999 bis 2009 habe ich in Paris, Montreuil und in der Bourgogne gelebt. Diese Zeit war für mich und meine Arbeit deshalb wegweisend, da ich fernab von Deutschland in Ruhe mein Werk, meine künstlerische Handschrift entwickeln konnte. Ohne meinen Bezug zu Frankreich wäre ich nicht die Malerin geworden, die ich heute bin.
Zu Beginn wollte ich Ingo möglichst viel von meiner Wahlheimat zeigen, ihm mein französisches Leben näherbringen. Denn natürlich geht es beim Atelier vagabond auch um das Nachspüren eines anderen Lichtes, der Farben, der Landschaften, um die Entdeckung neuer Formen und Linien, um fremde Gerüche und Erlebnisse. Um die Illusion, den ganzen ermüdenden gesellschaftlichen Mechanismen von Zeit zu Zeit zu entkommen.
IF Als Ulrike und ich 2011 zusammenfanden, fragte sie mich, ob ich mit ihr ein paar Wochen nach Frankreich gehen würde. Ich war ziemlich mutig und habe sofort zugesagt. So sind wir gleich im ersten Sommer in die Auvergne gereist. In ein wunderschönes Haus mit Atelier auf einem Berg, mitten im Wald. Im Laufe der Zeit waren wir vier oder fünf Mal gemeinsam dort und lebten da ganz zurückgezogen und einfach, mit dem ausschließlichen Fokus auf unsere Arbeit. Da La Sagneyre auf über tausend Meter liegt, hatten wir oft mit rauen Wettern zu tun, Gewittern, Regen oder Dürre. Einmal ist tagelang eine durstige Pferdeherde um das Haus gezogen. An den von unserem Freund angelegten Teichen fanden sie Wasser, wurden zahmer und knabberten am Ende an den Scheibenwischern unseres Autos.
US Zum Reisen gehören Begegnungen, auch mit Tieren. Vor zwei Jahren sind uns dort zwei Hunde zugelaufen. Die Hündin blieb bei uns – Cosette. Sie legte sich im Atelier unter unsere Arbeitstische oder am liebsten neben die Bilder – herzzerreißend. Wir konnten sie nicht mit nach Berlin nehmen. Ich trauere ihr noch heute nach.
FK: Bevor wir uns weiter auf die Spurensuche begeben vorweg noch eine Frage: Welche Rolle spielt in Deinem Leben Ulrike die Malerei, und bei Dir Ingo die Zeichnung?
US Die Möglichkeit Künstlerin zu werden hat sich für mich erst eröffnet, als ich nach dem Fall der Mauer nach Berlin kam. Das war eine große, intuitive Entscheidung und ich glaube, dass mich die Malerei in gewisser Weise gerettet hat.
IF Zeichnen erklärt mir die Welt. Für mich ist das Spannende, den Weg zu sehen, den künstlerischen Prozess der Entstehung. Die Transformationen, die das Werk gleichsam mit dem Künstler durchläuft und damit auch den Künstler an einen anderen inneren Ort bringt.
FK: Was ist das Besondere des Atelier vagabond für Euch?
US Die Freiheit zu sagen: »Ich gehe«, ist manchmal ein kleiner Triumph. Eine Reisende war ich schon immer und liebe das Mir-neue-Welten-Schaffen in der Fremde. Reisen ist vielleicht wie ein Theaterstück, das man gespielt hat, ephemer, und trotzdem trägt man es in sich.
IF Ich bin da einfach langsamer. Mir geht es nach dem Losfahren so, dass ich anfange nachzudenken, was ich wohl vergessen habe. Ich vergesse immer irgendetwas. Das Loskommen fällt mir eher schwer. Beim Ankommen geht es dann erst einmal darum, mich einzurichten, ein Atelier zu installieren. Einen Rückzugsort zu schaffen, um mich fernab der ganzen Berliner Verpflichtungen ganz auf das künstlerische Arbeiten zu konzentrieren.
FK: Wäre es einfacher, im Atelier zu bleiben, wo Du alles für Dich durchkonstruiert hast?
IF Nein, ich habe den Eindruck, dass das Losgehen mir auch die Freiheit schenkt, etwas Neues anzufangen. Ich genieße es zu improvisieren. Man findet immer irgendwo etwas. Vor allem, dass das Alltägliche vorher erledigt wurde und der Fokus nur noch auf das Zeichnen gelenkt ist. Dass es wieder in den Mittelpunkt rücken darf.
US Für mich wäre es ein großer Genuss, in einem japanischen Haus zu leben, in einem espace vide (Peter Brook), einem leeren Raum, der immer wieder neu erschaffen werden kann und einlädt, frisch zu denken, zu spüren und sich auf Unbekanntes einzulassen. Aus meinem Atelier in Berlin flüchte ich manchmal, weil es schon so voll ist.
IF Das Auf-Reisen-Gehen wirft einen immer wieder auf sich selbst zurück, auf das Hier und Jetzt. Anders als zu Hause, wo das Atelier über einen langen Zeitraum wächst und immer perfekter wird.
FK: Wird die Arbeit auch perfekter?
IF Für mich geht es beim Zeichnen nicht um Perfektion. Es geht mir um den Arbeitsprozess, um Schritte, ein Wandern, eine Weiterentwicklung. Die Ergebnisse – ob im Atelier oder auf Reisen – sind ähnlich. Das Besondere am Unterwegssein sind die vielen Eindrücke, die neu und fremd sind. Das schärft die Wahrnehmung. Man ist in einer unbekannten Umgebung, instinktiv wacher, aufmerksamer. Bestenfalls ist Linksverkehr, wenn man in England ist.
FK: Eigentlich wart Ihr schon zu allen Jahreszeiten unterwegs, ob im Winter in Finnland oder in Plüschow, im Herbst in der Schweiz oder im Sommer in Italien und natürlich Frankreich.
US Für unsere Reisen gibt es immer wieder auch »offizielle« Anlässe, wie Stipendien. Nach Finnland sind wir auf Vorschlag des Goethe-Institutes und der Helsinki International Art Projects gekommen. Das war ein großes Sich-auf–die Reise-Begeben ganz am Anfang unserer Beziehung.
IF Für dieses zweite Atelier vagabond wurden wir 2012 von Januar bis März auf die kleine, vor Helsinki liegende Insel Suomenlinna eingeladen. Die Fahrt ging mit unserem Bus über Stockholm und dann mit der Fähre weiter. Es war eine beseelte und spannende Zeit. Wir hatten tatsächlich alles dabei, inklusive des Weins. Als wir ankamen, begann es zu schneien und hörte nicht wieder auf. Ich habe unsere Batterie aus dem Auto geschraubt und es bis März einschneien lassen und erst vor der Abfahrt wieder freigeschippt.
US Nie hätte ich gedacht, dass es in der dunklen Zeit im Norden ein so phantastisches Licht geben kann, und zum ersten Mal erfuhr ich, was Pastelltöne sind. Ein Farbspektrum in dieser Intensität und die Finesse von Licht kannte ich bis dahin nicht. Die Nächte sind sehr lang, das Licht ist ein besonderes, ganz weiß. Die Stille und unser Sich-einschneien-Lassen waren für mich magische Momente.
IF Durch die eisige Kälte froren die Schären mit der Zeit zu und bildeten nichtendenwollende weiße Flächen, die im Mondlicht leuchteten. Eine unglaublich schöne Helligkeit. Von Zeit zu Zeit setzten wir mit einer kleinen Fähre, für die ein Eisbrecher zuvor eine Schneise freibrechen mußte, nach Helsinki über. Das hat mich an meine Kindheit auf der Insel Norderney erinnert. Auch da war es nicht immer so einfach, im Winter aufs Festland zu kommen. Manchmal waren wir, wenn der Wind ungünstig stand und dauerhaft wenig Wasser im Wattenmeer war, wochenlang vom Rest des Landes abgeschnitten. Ich liebe es sehr, auf einer Insel zu sein.
FK: Wie lange ward Ihr da?
IF Sechs Wochen. Im Winter ist das eine kleine Ewigkeit.
US Ich mochte es, jeden Tag die gleichen Wege durch den Schnee bis zur Festungsmauer zu stapfen und dann auf die verschneite Ostsee zu schauen, die so glänzte wie ein Stern.
Weißt Du noch, Ingo, als wir damals 2014 mitten im Winter auf Schloss Plüschow in Mecklenburg waren? Bei minus 20 Grad fiel die Heizung für drei Tage aus.
IF Wir hatten unser Autobett ins etwas isoliertere Atelier gestellt und auch tagsüber unter den Federbetten gethront und Hof gehalten wie Yoko Ono und John Lennon. Noch heute amüsiert uns, dass sich der Leiter des Hauses zu uns aufs Bett setzte, um mit uns eine Ausstellung zu besprechen und wie es bei diesen Temperaturen mit dem Arbeitsaufenthalt weiter gehen sollte.
Mit unserem VW-Bus sind wir auch 2015 nach Island übergesetzt. Ich hatte von 2003 bis 2004 ein Jahr auf Island gelebt und bin bis heute mit dem Land und der Künstlerszene vor Ort sehr verbunden. Nun wollte ich Ulrike meine Sehnsuchtsorte und Traum-Landschaft zeigen. Zuerst sind wir kreuz und quer durch das von Wundern volle Land gereist bis hoch in die Westfjords. Ich hatte über Bekannte dort ein Haus in Flatery organisiert, in dem es uns allerdings unmöglich war, zu arbeiten.
US Bis zum nächsten Tag sprach sich herum, dass zwei Künstler aus Berlin gestrandet seien und für vier Wochen ein Atelier suchen. Unglaublich, am Nachmittag wurden uns die Schlüssel zum Félagsheimili, einem kommunalen Veranstaltungsort, übergeben. Ein schöner Saal, geheizt und mit großen Fenstern.
IF Das perfekte Atelier. Als hätten wir ein Loft im New York der 1960er/1970er Jahre bezogen. Auf die Bühne kam, neben den Billardtisch, das bewährte Bett aus dem Auto. Wir haben dann sehr konzentriert gearbeitet und am Ende hat jeder ein Werk im Rathaus von Ísafjörður abgegeben. Wie großzügig und unbürokratisch das gehandhabt wurde!
US Es gibt in Island ein sehr klares, hartes Licht, welches für Fotografen und Zeichner sicher phantastisch ist – mich hat es malerisch weniger inspiriert. Wie ich auch nicht so recht mit den Mittsommernächten klargekommen bin. Die Sternenlosigkeit empfand ich als einen Kulturverlust. Ich bekam Sehnsucht nach warmen Sommernächten und merkte, wie sehr ich die culture latine vermisste, das sur-la-place einen Wein zu trinken, eine kleine Kirche zu entdecken. Das ist etwas anderes, als die großartigen Naturspektakel, die man natürlich auf Island allenthalben findet.
IF Ich spüre auf Island eine unglaubliche Erdung. Eine Insel hat für mich etwas Behütendes. Man kann darauf nicht verlorengehen. Im Zweifelsfall läuft man einmal am Strand um sie herum und kommt am Ausgangspunkt wieder an. Ich wollte damals in den hohen Norden, um die Zeit zu studieren. Deswegen war ich ein ganzes Jahr auf Island.
FK: Was meinst du denn mit Zeit?
IF Die 24 Stunden Helligkeit und dann die Dunkelheit im Winter, wenn die Sonne kaum über den Horizont kommt. Aber im Sommer ist es ein Erlebnis, wenn sie ihn nur kurz berührt, um gleich wieder aufzusteigen. (Zu Ulrike) Das nächste Mal fahren wir im Winter hin. Die Nordlichter, diese Himmelswunder, werden Dich begeistern.
FK: Wie ist das Losfahren für Euch?
IF: Wenn wir losfahren, nehmen wir ja nur leere Blätter mit. Ideen sind im Handgepäck und wir kommen mit vollen Blättern wieder. Ich bin meistens schneller zufrieden mit einer Situation als Ulrike. Du bist eigentlich vor Ort selten sofort einverstanden …
US (lacht) Ich versuche mich eben für eine Situation einzusetzen, die für uns künstlerisches Arbeiten auch möglich macht.
FK: Nehmt Ihr Eure Materialien mit, die Ihr zum Arbeiten benötigt?
IF Ja, fast ausschließlich. Es ist ein unglaublicher Missstand, wenn ich vor Ort plötzlich etwas suchen muss.
US Ich habe in meinem Atelier drei Kisten mit Farben, Pinseln und Material fertig gepackt und könnte jederzeit wieder aufbrechen.
FK: Das finde ich nicht uninteressant: sich eine improvisiert perfekte Situation zu schaffen. Wie beginnt Ihr Euer Atelier vagbond vor Ort?
US Zum Leben braucht es gar nicht so viele Dinge. Wenn etwas fehlt, gehen wir auf den Flohmarkt. Gerade in Frankreich finde ich dort die schönsten Sachen.
IF Eng wird’s auf dem Rückweg, wenn wir neben unseren Arbeiten Wein aus der Gegend und unsere Schätze der Vide-greniersmitbringen.
FK: Welche Reise ist Euch besonders in Erinnerung geblieben?
US Als wir ins Salento fuhren, in die Nähe von Lecce – das war tatsächlich ein Vagabundenatelier. Wir haben uns mit einem Segel ein Atelier im Freien eingerichtet.
IF Wir bekamen im Austausch zu unserer Berliner Wohnung eine Marquez-Villa der 1930er Jahre mit einem fantastischen maurischen Anwesen einschließlich einem verwilderten Garten mit Orangenhainen, Feigenbäumen, Öl- und Mandelbäumen. Süditalienischer Adel im Untergang. Ich ging beglückt in der Rolle des Gärtners auf.
US Meine Serie IONIAN SEA entstand dort und Ingo bezeichnete riesige Blätter mit Blüten und Palmenwedeln.
FK: Welchen Unterschied hat für Euch das Arbeiten im Atelier gegenüber dem auf Reisen in Eurem gemeinsamen Atelier vagabond?
IF Eine große Qualität des Atelier vagabond ist, dass wir gemeinsam im Atelier arbeiten, dass wir zum anderen sagen können: Lass das mal so, die Arbeit ist gut. Ein kleiner Hinweis von außen auf einen spannenden, neuen Aspekt kann wertvoll sein. Der unmittelbare Austausch und die Aufmerksamkeit sind etwas sehr Besonderes.
US Es ist das Nebeneinander-Sein, ein Nebeneinander-Kunst-Leben. Wir begleiten uns im Schaffen manchmal nur still, denn es gibt auch die Intimität des Arbeitsprozesses.
FK: Evozieren bestimmte Orte bestimmte Farben, Striche, Linien oder Rhythmen?
IF In verschiedenen Landschaften entdecke ich unterschiedliche Striche, eine andere Natur, ein anderes Klima und Seinsempfinden. Das wird dann auch in der Arbeit sichtbar. Der Sommer ist gemalt, der Winter ist gezeichnet.
Ein Ort und meine Wahrnehmung sind verbunden. Und Zeichnen ist Wahrnehmen. Mich erstaunt immer wieder, dass ich die Situation, in der eine Arbeit entsteht, so intensiv spüren kann. Diese Präsenz schreibt sich in meine Zeichnungen ein. Aber das ist nicht unbedingt nur orts-, sondern auch zeitgebunden. Die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Selbst wenn ich den Ort wieder besuchte, ist es ein neuer Ort für mich.
FK: Du arbeitest ja auch mit Abbreviaturen, Kürzeln und Formen, die Du erfunden hast. Gehen diese auf bestimmt Orte zurück?
IF Ich arbeite nicht mit Kürzeln! Ich spüre Linien und Strichen mit dem Bleistift nach. Man kann es sich vielleicht vorstellen wie einen Baum, der wächst und sich immer weiter verzweigt. In jede Richtung wird die Differenzierung immer feiner. Jedes Mal, wenn ich eine Tür öffne, sehe ich neue Türen und kann mir wieder eine aussuchen. Eine Art Wachstumsprinzip. Dadurch kommt die Unendlichkeit der zeichnerischen Möglichkeiten zustande. Wenn ich hingegen versuche, eine Situation abzuzeichnen, werde ich mir ziemlich schnell darüber klar, wie unmöglich das eigentlich ist. Über das Schauen komme ich in so viel Detailreichtum, dass dieser für mich nicht mehr fassbar ist, und reduziere mich automatisch auf das Wesentliche. Das ist so meine Werkzeugkiste, die sich immer weiter füllt und wächst.
FK: Welche Rolle spielen Leere und Fülle in Euren Arbeiten?
IF Tatsächlich ist es ein »um die Leere herumarbeiten«. Oft entsteht die Spannung aus der Dynamik des Striches und den freien Flächen. Das Nichtgezeichnete macht die Zeichnung aus. Aus dem Positiv-Negativ-Moment entsteht Tiefe. Ich stolpere häufig darüber, dass es mir misslingt, die Leere auf einem Blatt zu halten. Es ist beeindruckend, dass ein fast leerer Bereich mit zwei drei Strichen schon wieder zu voll sein kann.
US Die Spannung zwischen Leere und Fülle beschäftigt mich auch. Wann beginnt sie zu kippen? Gelingt es mir, eine größtmögliche Leere auf dem Bild zu erhalten? Ein gefundenes équilibre kann durch die Setzung eines neuen Farbflecks oder eines Zeichens ge- oder zerstört werden. Oder es kann eine neue malerische Richtung vorgeben. Bei den Collagen ist es anders. Da reizt mich eher das Spiel zwischen Raum und Form.
IF Es gibt eine kunsthistorische Anbindung bis hin zur Höhlenmalerei. Auch die Menschen im Paläolithikum hatten Fackeln, ihre Hände und Kreidestücke und zogen aus der Beobachtung heraus eine Linie mit Verdichtungen, Leeräumen, Öffnungen und Brüchen.
FK: Entscheidet Ihr Euch bewusst für eine Verdichtung oder Öffnung des Formats in Euren Zeichnungen und Malereien?
IF Zu Beginn lege ich gern die Parameter einer Zeichnung fest. Ist die Systematik einer Strichführung entschieden, kann ich eine Linie setzten und ihr durch das gesamte Blatt konsequent folgen. Aber es gibt immer auch diesen Moment, in dem ich mich frage: Gehört es noch dazu oder treffe ich gerade eine neue Entscheidung und verlasse dieses System und führe es anders weiter.
US Ich kann mit einem breiten Pinsel und weißer Farbe die Leerstellen auf einem Bild, das mir zu voll geworden ist, zurückholen, was auch ein Prinzip im Erarbeiten einer lebendigen Oberfläche ist. In diesem Übermalen und Aufsetzen entsteht Struktur und Farbigkeit. Vielleicht ist das auch der Unterscheid zwischen Malerei und Zeichnung.
FK: Beim Betrachten Deiner Bilder Ulrike habe ich das Gefühl, dass Du zeichnend, ähnlich einer écriture automatique, mit Farben malst.Man könnte meinen, Deine Arbeiten sind Ausschnitte einer unendlichen Bewegung.
US Ja, das ist so. Obwohl ich viel gezeichnet habe, empfinde ich das Malen für mich körperlich intensiver, sinnlicher. Spannend wäre, welche Zeichen sich in einem anderen Schriftraum aus dem kulturgeprägten Unbewussten schälen würden. Meine malerischen écritures bestehen auch aus Elementarformen, die man in allen Epochen und Kulturen wiederfindet, wie Linie, Dreieck, Kreis, Oval, Schale und viele mehr.
FK: Wann ist ein Bild für Dich gelungen oder fertig?
US Wenn sich ein équilibre einstellt, eine Balance zwischen Farbe und Leere.
FK: Trennst Du Dich leicht von Bildern die Dir misslungen sind?
US Ja, aber manchmal dauert es lange. In meinen Collagen kann ich verworfene Arbeiten als pièces perdus wieder aufnehmen.
FK: Wie ist das bei Dir, Ingo?
IF (lacht) Ich hab einen Ofen.
FK: Gibt es Fehler?
IF Wenn ich ein System, eine angelegte Ordnung breche, fällt es auf, und es ist schon schmerzhaft, wenn ich dann mehrere Tage Arbeit ins Feuer schiebe.
FK: Wie sieht bei Euch das Experimentieren aus?
IF Um sich der Kunst zu nähern, ist für mich das Spielerische zwingend notwendig. Ich bin ein sehr verspielter Mensch. Es gibt diese Faszination, dieses Glücksmoment, wenn’s stimmig ist, oder wenn etwas entsteht, womit ich nicht gerechnet habe.
US Dafür muss man offen sein, um es sehen und annehmen zu können. Ein Fehler kann auch eine Überraschung sein. Ein Zufall, der erstaunt. Fehler sind wichtig, sie sind wie eine Krise. Wenn man hindurchgeht, kann vielleicht wieder etwa Neues entstehen.
FK: Zeigt Ihr Eure Arbeiten gern, wenn sie noch im Entstehen sind?
IF Nein. Aber das Atelier ist ja auch ein Begegnungsort für Interessierte, Freunde oder fremde Menschen und mit seiner schöpferischen Fülle ein unglaublich schöner Magnet. Eine Ausstellung am Ende, ein Offenes Atelier, ein Apéro …. liegen uns sehr am Herzen und ziehen sich wie ein roter Faden durch das Atelier vagabond.
US lm Umkreis unserer Aufenthaltsorte lernen wir oft ganz selbstverständlich die dortige Kunst- und Kulturszene kennen, wie zum Beispiel in Octon, einem kleinen Dorf im Languedoc, das uns nach einer Einladung in das kommunale Village des Arts im Jahr 2015 besonders ans Herz gewachsen ist.
IF Das Schöne am Atelier vagabond ist, dass die Besucherinnen und Besucher nur das gerade Entstandene sehen –, was eine besondere Intensität hat. Dass das Entstehen von Kunst diese Anziehung hat, ist einfach schön, verbindet und macht alle glücklich. Wir brechen nicht nur unseren Alltag auf, sondern auch den Alltag jener, die uns besuchen.
FK: Ingo, macht es für Dich einen Unterschied, welche Zeichnungen im Atelier oder im Atelier vagabond entstanden sind?
IF Auch auf Reisen ist es ein Atelier. Für mich ist das Faszinierende am Zeichnen, dass meine Momentwahrnehmung dabei so intensiv ist. Ich banne meine Erinnerung auf das Papier.
US Du kannst dich direkt an Situationen erinnern? Dieses tagebuchartige Erinnern habe ich nicht.
IF Während unserer Fahrten zeichne ich oft, und es passiert, dass sich diese Fahrt, diese Landschaft oder der Tag, die Nacht noch einmal extra einprägen. Man kann von der Aura einer Fahrt sprechen.
FK: Ich denke dabei an die mehr als einhundert Bleistiftzeichnungen vom Fluss Reuss in Göschenen, die Du mir im vergangenen Herbst gezeigt hast. Die haben tatsächlich etwas Tagebuchartiges. Das Fortscheiben des Flusses zu unterschiedlichen Tageszeiten über eine gewisse Zeitdauer hinweg, dass die Tage alle so ein eigenes Erscheinungsbild haben.
IF Eine Weisheit sagt, dass man nicht zweimal in den selben Fluss steigen kann. Vier Wochen lang kam ich jeden zweiten, dritten Tag an den Fluss und habe fünf, zehn oder fünfzehn Blätter gezeichnet und die Serie eines jeden Tages hat ihr eigenes Temperament.
US À propos Atelier vagabond: Im letzten Jahr erhielten wir ein Stipendium in der Schweiz. Die Bedingungen dort waren für uns schwer auszuhalten. Wir fanden uns in einem zugigen und am Abend schlecht beleuchteten Durchgangsatelier gegenüber einer Riesenbaustelle wieder. Acht, neun Stunden Dauerbeschallung durch Presslufthammer und ständige Sprengungen des Felsgesteins. Bei jeder Detonation fielen uns Stift und Pinsel aus der Hand, ein Arbeitsfluss, eine gedankliche Fokussierung oder ein Rückzug waren kaum möglich. Ruhe und Konzentration sind uns beiden wichtig und gerade mir bei der à la prima-Malerei essenziell.
IF Über diesem Aufenthalt lag ein dunkler Schatten. Das Tal und die hohen Berge ohne Abend- und Morgendämmerung entsprachen uns nicht. In der Schweiz wurde uns noch einmal bewusst, wie sehr wir die Ferne lieben, eine Weite, in die man schauen kann. Der Gotthard ruft uns nicht.
FK: Gibt es Orte, an die Ihr gern zurückkehren möchtet?
IF Wenn man resümiert, hatten wir 14 große gemeinsame Künstlerreisen. Eine reiche Zeit. Nun gibt es in der Corona-Pandemie und auf Grund der Erfahrung im letzten Jahr das tiefe Bedürfnis nach einem Ort, an den wir zurückkommen können. Unsere große Sehnsucht ist Octon am Lac du Salagou.
US Wir möchten Wohnen und Arbeiten zusammenlegen. In einem schönen alten Haus, mit großen Tischen, in dem man vom Atelier ins Haus und zurück gehen kann und sogleich wieder in der Kunst ist. Meine schönsten Momente sind es, wenn die Cigalles singen, die befreundeten Winzer eimerweise Tomaten bringen und ich diese während der großen Mittagshitze in großen Töpfen zu Sugo einkoche. Diese Sinnlichkeit finde ich fantastisch.
IF Am Abend kommen Gäste und sind neugierig, was entstanden ist. Das ist für mich Sich-Mitteilen. Darin liegt »mit« und »teilen«.
US Wer weiß, vielleicht ist es ja die große Herausforderung aller vagabonds, eines Tages anzukommen, und damit meine ich diesmal nicht nur »bei sich selbst«.

1 Aus: Susan Sontag, Der Blick aus der Arche oder Dialog zwischen einem Nachkommen Noahs und einem Vogel. In: Susan Sontag, Wie wir jetzt leben. München: Hanser, 2020, S. 75ff.