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Wolfgang Ullrich | Universalismus durch Ortswechsel.

Ulrike Seyboth, Ingo Fröhlich und die Methode des ‚Atelier vagabond’ | 2022

Manche Künstler wechseln ihr Atelier jahrzehntelang nicht und können sich vielleicht nicht einmal vorstellen, jenseits davon zu arbeiten. Ihr gesamtes Œuvre entsteht an einem einzigen Ort. Das Prinzip ‚stabilitas loci’ ist die Voraussetzung ihrer Kunst; es gibt ihnen eine Sicherheit, die es ihnen erst erlaubt, künstlerisch mutige Entscheidungen zu treffen, ja es ermöglicht ihnen, als Grundlage hoher Qualität, konzentriertes Arbeiten. Andere Künstler hingegen streben nach häufigem Ortswechsel. Sie wollen ihre Kunst unter möglichst unterschiedlichen Bedingungen praktizieren, sich aber auch von einer immer wieder anderen Umgebung anregen und herausfordern lassen. Entsprechend achten sie darauf, dass ihre Werke gut transportabel und keinesfalls immobil an einem Ort sind.
Ulrike Seyboth und Ingo Fröhlich gehören nicht nur zum zweiten Typus, sie definieren diesen sogar neu. So steht ihr gemeinsames künstlerisches Konzept seit mehr als einem Jahrzehnt unter der Maxime ‚Atelier vagabond’, ist also ausdrücklich darauf angelegt, dass die beiden nie zu lange an einem Ort bleiben. Wechselnde Landschaften, unterschiedliches Licht, andere Menschen – das alles ist ihnen wichtig, um ihre Kunst voranzubringen.
Dabei sollte man sich vor voreiligen Schlüssen hüten. Wenn die beiden ihr Atelier an immer wieder anderen Orten – in Frankreich, Finnland oder der Schweiz, in einer Großstadt, auf dem Land, in den Bergen – aufschlagen, bedeutet dies nämlich keineswegs, dass ihre Kunst deshalb jeweils ganz anders aussieht. Vielmehr entwickelt sich Ulrike Seyboths Malerei und Ingo Fröhlichs zeichnerisches Werk sogar erstaunlich kontinuierlich, verändert sich also alles andere als sprunghaft. Statt ortsspezifisch und von den jeweiligen lokalen Bedingungen erkennbar geprägt, gar determiniert zu sein, kann sich ihre Kunst durch die vielen Ortswechsel im Gegenteil immer wieder neu bewähren und hat so nach und nach an Stärke und Universalität zugelegt. Die Gemälde und Zeichnungen machen sich also nicht nur in einem bestimmten Licht oder Ambiente gut, sondern kommen unter ganz verschiedenen Umständen gleichermaßen zur Geltung.
Die gemeinsamen Ortswechsel führen aber auch dazu, dass sich Ulrike Seyboth und Ingo Fröhlich umso stärker nicht nur auf das eigene Werk, sondern genauso auf das des Partners konzentrieren. Es bleibt das verlässliche Gegenüber, selbst wenn (und gerade weil) sich sonst immer wieder fast alles ändert. Das eine Werk fungiert als Maßstab für das andere, wobei die Malerin und der Zeichner zugleich so unterschiedlich arbeiten, dass sie sich weniger beeinflussen als vielmehr Resonanz geben. Daher haben beide bei aller Freiheit, die ihnen ihre räumliche Flexibilität ermöglicht, keine Unverbindlichkeit, gar Beliebigkeit zu befürchten; vielmehr werden sie im Vergleich und im Dialog mit dem Werk des anderen umso mehr zur Reflexion ihres eigenen Werks gebracht.
Die Formel ‚Atelier vagabond’ lässt sich daher als Methode zur sukzessiven Steigerung künstlerischer Qualität begreifen. Man überprüft etwas, das an einem Ort entstanden ist, an einem anderen, setzt es dort fort, variiert es, bereichert es um einen weiteren Faktor, der an früheren Orten keine Rolle spielte, setzt sich auch neu mit dem Werk des Partners und damit mit der eigenen Arbeit auseinander. Im Fall von Ulrike Seyboths Malerei heißt dies, dass sich auf ihren Gemälden formal höchst unterschiedliche Phänomene – also etwa kräftig getupfte Flächen, zart gestrichelte Partien, gestisch verriebene Farben und Drippings – versammeln. Ihre Herkunft mag noch so verschieden sein, ja einzelne dieser Phänomene mögen sich ursprünglich der Erfahrung eines bestimmten Malorts verdanken, aber auf dem Gemälde finden sie harmonisch, sorgfältig austariert zusammen, weil die Künstlerin sie gemeinsam Ort für Ort von neuem auf die Probe gestellt und ihre Beziehungen untereinander vielfach, unter wechselnden Verhältnissen ausgelotet hat. Je mehr formale Stilmittel sich Ulrike Seyboth im Lauf ihrer vielen Reisen erschlossen hat, desto besser hat sie diese zugleich miteinander zu kombinieren gelernt. Die häufigen Ortswechsel sind daher als einzige, große Konzentrationsübung, als ein Prozess fortwährender Läuterung zu verstehen.
Bei Ingo Fröhlichs Zeichnungen hat die Methode des ‚Atelier vagabond’ hingegen zu einer anderen Form der Konzentriertheit geführt. Jeder neue Ort erlaubt ihm die Rückkehr an einen Nullpunkt, eine Neubesinnung auf die elementaren Prinzipien des Zeichnens. Oft ist es dann eine markante Eigenheit der jeweils umgebenden Landschaft, die er aufgreift und abstrahiert, um sie in einem größeren Zyklus von Zeichnungen zu konjugieren. Auch das ist eine Form der Läuterung, und am nächsten Ort beginnt die Orientierung zwar von Neuem, aber im Lauf der Jahre hat Ingo Fröhlich dadurch ein so hohes Maß an Klarheit und Sicherheit gewonnen, dass seine Zeichnungen weit mehr als Ausdruck einer momentanen Natur- oder Lebenserfahrung sind. Vielmehr handelt es sich um allgemeingültige Bildformeln, die letztlich unabhängig von ihrem Entstehungsort überall zum Einsatz kommen können.
Derart unter wechselnden Bedingungen sich entwickelnde künstlerische Werke wie die von Ulrike Seyboth und Ingo Fröhlich werden letztlich also ortsunabhängig. Je mehr die beiden sich auf möglichst unterschiedliche Orte und ihre jeweiligen Gegebenheiten einlassen, desto stärker emanzipieren sie sich paradoxerweise zugleich davon. Ihre ohnehin schon mobilen Gemälde und Zeichnungen kann man daher bedenkenlos – und voller Neugier – von Ausstellung zu Ausstellung schicken. Sie werden sich in einem ‚White Cube’ genauso wie in einem Abbruchhaus, im Freien genauso wie in einem Wohnraum behaupten und ihre ästhetische Kraft überall dort demonstrieren, wo man sie einem Publikum präsentiert. Ja, was im Namen der Methode des ‚Atelier vagabond’ entstanden ist, hat das Zeug dazu, überall auf der Welt zuhause zu sein.

Dr. Robert Kudielka | La rivalité revisitée: Ulrike Seyboth und Ingo Fröhlich

Katalogtext zur Zusammenarbeit und Ausstellung von Ulrike Seyboth & Ingo Fröhlich in den Musées de Sens (Bourgogne) und der Guardini Galerie Berlin, Distanz Verlag | 2020/2021

Paarweise Allianzen von Künstlern und Künstlerinnen sind eine relativ junge Erscheinung in der Kunstgeschichte, etwa so alt wie die bürgerliche Gesellschaft und der moderne Kunstbegriff. Offensichtlich sind sie ein Ergebnis der Individualisierung der Kunstpraxis und der Emanzipation der Frauen; entsprechend leidet die Anerkennung von solchen Verbindungen unter eben jenen Vorurteilen, die mit diesen Entwicklungen in die Welt kamen. Selbst die partnerschaftliche Zusammenarbeit von Paaren wie Christo und Jeanne-Claude oder Anne und Patrick Poirier wird immer wieder die letztlich irrelevante Frage provozieren, wem von beiden die Hauptrolle im Schaffensprozess zuzuschreiben ist. Noch weiter ins Abseits droht die Diskussion zu geraten, wenn es um Paare von Künstlerinnen und Künstlern geht, die selbständig scheinbar ähnliche Absichten und Darstellungsformen verfolgt haben, wie Hans Arp und Sophie Taeuber oder Lee Krasner und Jackson Pollock. Dann nämlich verführt die äußerliche Vergleichbarkeit der Mittel und Intentionen zu der Annahme einer gemeinsamen Basis, auf der über den Rang der geschaffenen Werke entschieden werden könne; und mischt sich dazuhin das redliche Verlangen ein, die Leistung von Künstlerinnen aus dem Schatten der kunsthistorischen Männereloge zu holen, ist es um das Kunsturteil meist endgültig geschehen.

Im Falle von Ingo Fröhlich und Ulrike Seyboth greift keines dieser Muster. Die künstlerischen Mittel und Verfahrensweisen der beiden sind grundverschieden: Er zeichnet, zieht Striche und Linien in einer unemphatischen, konzeptionell kontrollierten Manier; sie malt, setzt Flecken und Pinselspuren mit einer fast überschäumenden, sprunghaften Spontaneität. Eine größere Gegensätzlichkeit der Temperamente und Arbeitsweisen lässt sich kaum denken. Und dennoch arbeiten beide seit einem Jahrzehnt eng zusammen, verbrachten gemeinsame Arbeitsaufenthalte in verschiedenen Regionen Europas und haben sich gegenseitig in ihrer künstlerischen Entwicklung gefördert und gesteigert. Das mag angesichts des gängigen Konkurrenzverhaltens unter Künstlern wie ein liebenswürdiger, etwas weltfremder Sonderfall erscheinen; aber nur solange, wie der Kampf um Anerkennung als die eigentliche und einzige, leider unerlässliche und eher lästige Form des Wettstreits in den Künsten angesehen wird. Ein kläglicher, der Dominanz des Kunstmarkts geschuldeter Irrtum. Denn die Alternative ist nicht monomanische Selbstüberzeugtheit oder die friedfertige Künstlerkommune. Rivalität, richtig verstanden, ist vielmehr eine elementare Triebfeder des Kunstschaffens. Rivalisieren heißt nicht, sich durchsetzen, andere ausstechen wollen, sondern zielt auf ein Übertreffen in der Sache. Das Wort ist ursprünglich ein Rechtsbegriff aus der altrömischen Bauernkultur: rivales sind Mitbenutzer eines gemeinsamen Wasserlaufs (rivus). Nur törichte Anlieger graben einander das Wasser ab, statt das Beste aus der Nachbarschaft zu machen.

»Ich zeichne die Zeit, du malst den Moment«, lautet die Parole, die Ingo Fröhlich für die Zusammenarbeit mit Ulrike Seyboth gefunden hat. Die Ausgangslage ist für beide dieselbe, die weiße Fläche, wenn auch nicht im gleichen Sinne wie für andere Maler und Zeichner. Die Abkehr von dem verbreiteten Habitus, die weiße Leinwand oder den weißen Bogen Papier lediglich als Oberfläche, als zweidimensionale Unterlage für ein Bild aufzufassen, ist die erste maßgebliche Vorentscheidung ihrer Arbeitsgemeinschaft. Weiß ist nicht bloß eine neutrale Grundierung. Die Strahlkraft dieser Farbe verleiht dem materiellen Bildträger jeweils eine ganz bestimmte, buchstäblich »untiefe« Räumlichkeit: leer, aber undurchsichtig; dicht und dennoch offen; gleichförmig bei völliger Instabilität. Man kann in diesen untiefen Raum feste Dimensionen einziehen, Formen projizieren, eine Figur-Grund-Ambivalenz konstruieren und dergleichen mehr. Aber man kann auch die Leere, Dichte und Fluidität der weißen Bildfläche selbst als etwas Formbares, als ein plastisches Medium betrachten, wie Ingo Fröhlich und Ulrike Seyboth das tun. Dann ist jeder Strich eine Spur, die so alleine nicht stehen bleiben kann, und jeder Fleck eine Markierung, die ihren Ort erst noch finden muss, das heißt: der Anfang einer Art von Dialog mit ungewissem Ausgang.

Als einzelne verlieren sich Linien gern im Dienst an etwas anderem, Signifikanterem. Die eine Linie strebt ins Unendliche, setzt Grenzen, schließt sich zur Form, erschöpft sich in Umrissen – und verschwindet so, als Linie. Ingo Fröhlich wirkt dieser Tendenz durch Wiederholung entgegen, indem er Linien in parallelen Formationen vervielfacht und damit in der Ausdehnung der weißen Fläche dazu bringt, gegen die gerade Verlaufsrichtung in die Breite zu gehen. Dadurch entstehen Lineamente, die als Bewegungsfelder wahrgenommen werden, statt in Formen zu erstarren. Die Bandbreite der Assoziationen reicht dabei von Wellenbewegungen und Strömungsbildern bis hin zu organischen Prozessen des Schwellens, Saugens, Faserns, Flechtens. Für diese Stimulation unserer Einbildungskraft ist entscheidend, dass die Wiederholung der Linien keinem exakten Kalkül folgt. Jede Linie ist vielmehr ein frei gezogener Strich, auch wenn gelegentlich, vor allem für Wandbilder, Schablonen als Hilfsmittel dienen. Denn es kommt nicht in erster Linie auf die Präzision der Linien an sich an, sondern auf die Beachtung der Intervalle – nach der schönen Lektion, die Picasso seinem langjährigen Gefährten Jaime Sabartés erteilte: Wenn Du einen perfekten Kreis zeichnen willst, achte auf die Distanz zum Mittelpunkt, nicht auf die Linie – und selbst dann wird er nie vollkommen werden! Es sind die Abstände zwischen den Linien, die weißen Zwischenräume in Ingo Fröhlichs Wiederholungsstrukturen – sie bringen eine Proportion von Abweichung und Ähnlichkeit zur Geltung, die aus dem räumlichen Neben- und Auseinander ein dynamisches Nach- und Miteinander macht, einen kumulativen Zusammenhang in der Zeit.

»Ich zeichne die Zeit, du malst den Moment.« Nichts in Ulrike Seyboths Bildern hängt zusammen, Zusammenhanglosigkeit scheint geradezu das Kompositionsprinzip ihrer Malerei zu sein. Plötzlichkeit regelt die Disposition des informellen Vokabulars. Dennoch erscheint die Streuung der Flecken, Tupfen, Wisch- und Kritzelspuren keineswegs zufällig oder gar willkürlich, expressiv in einem subjektiven Sinne. Es stiebt, wirbelt, prasselt, ballt sich zusammen auf Ulrike Seyboths Leinwänden und Papierarbeiten, ohne dass ein Ausdruckswollen dahinter erkennbar wäre. Die Heftigkeit, mit der die Bilder beim Betrachter ankommen, verdankt sich vielmehr der strahlenden Helligkeit, aus der die Pinselspuren auftauchen wie freischwebende Ausblühungen einer verborgenen Energie – und einer Farbigkeit, die sich gegen diese Strahlung zu behaupten sucht. Der Kontrast Blau-Rot, der in unterschiedlichen Gewichtungen das Kolorit der Bilder bestimmt, galt schon in der gotischen Glasfensterkunst als Hoheitsformel, deren Intensität geeignet schien, im Dunkel der Kathedralen ein dem Tageslicht überlegenes Licht erstrahlen zu lassen. Zu dem auffallenden Wechsel zwischen einer Rot- und einer Blaudominanz gesellt sich in jüngerer Zeit, zumal in den Arbeiten auf Papier, eine Erweiterung des Pinselduktus durch Stempelspuren und eine spezielle Form des Collagierens. Die Malerin schneidet bestimmte Stellen aus aufgegebenen Arbeiten aus und arbeitet diese »pièces perdues« – ihr Terminus – so vollkommen in die spontane Malgestik ein, dass dichtgedrängte, vor überbordender Farbigkeit und formalem Wildwuchs geradezu berstende Bouquets entstehen. In der Tat, gibt es nicht Momente in der Vergangenheit, die wieder auferstehen zu lassen die Erfahrung von Gegenwart reicher und stärker macht?

Das beantwortet freilich noch nicht die Frage, worin die Gemeinsamkeit dieses Künstlerpaars liegt. Dass beide den gleichen Strom »Kunst« in Anspruch nehmen, reicht als Antwort nicht. Sollte es je einen Rechtstitel auf gemeinschaftliche Nutzung gegeben haben, so ist er schon lange erloschen. Grenzenlose Ausbeutung hat den Strom träge und trüb werden lassen, die alte Rivalität hat ihre Verbindlichkeit verloren. Ingo Fröhlich und Ulrike Seyboth haben sich vielmehr zusammengefunden in dem Bestreben, die erstarrten Verhältnisse wieder in Fluss zu bringen. Dass sie als Künstler auf gegenüberliegenden Ufern hausen, hat sie für diese Aufgabe eher prädestiniert. Ingo Fröhlich hat vor zwanzig Jahren in Berlin ein Projekt initiiert, in dem Ulrike Seyboth ihren Traum von einem »Bateau-Lavoir« wiedererkannte: ein Künstlerhaus, Ateliergebäude und Veranstaltungsort zugleich, wo reguläre Mieter und temporäre Hospitanten verschiedenster Herkunft und Ausrichtung frei miteinander arbeiten, sich austauschen und vor die Öffentlichkeit treten können. Neben dieser festen Adresse haben beide immer wieder längere Arbeitsstipendien im Norden und Süden Europas wahrgenommen, die sich in unterschiedlicher Weise in ihrer Arbeit niedergeschlagen haben. So hat in Island vor allem die Landschaft den Zeichner Ingo Fröhlich in ihren Bann gezogen, während bei Ulrike Seyboth im Licht des hohen Nordens die Präferenz für die Farbe Rot zugunsten einer kühlen blauen Gestimmtheit gewichen ist.

Der eigentliche Ruhepol in diesem künstlerischen Nomadisieren ist jedoch Frankreich, wo Ulrike Seyboth vor ihrer Verbindung mit Ingo Fröhlich zehn Jahre lang gelebt hat. Das Projekt »Je dessine le temps, tu peins l’instant« für die Musées de Sens ist zweifellos der ambitionierteste gemeinsame Auftritt des Künstlerpaars bislang. Der Plan, die Struktur des Rosettenfensters am Südportal der Kathedrale Saint-Étienne in einer monumentalen Bodenzeichnung auf der Cour épiscopale zu wiederholen, ist nicht nur ein kühnes formales Unterfangen. Die Umsetzung des zeitlosen geometrischen Maßwerks von Martin Chambiges in ein dynamisches ebenerdiges Lineament vollzieht zugleich die inhaltliche Verwandlung eines hochaufragenden Symbols der Ewigkeit in die Sphäre irdischer Zeitlichkeit. Wie werden die Besucher des Hofes diese Transfiguration annehmen? Werden sie davor zurückscheuen, die Zeichnung von Ingo Fröhlich zu betreten – oder werden sie die rhythmische Spiegelung des style flamboyant als eine Art geistiger Tanzfläche annehmen? Nur wenige Schritte weiter lädt Ulrike Seyboth zu einem ähnlichen Wechsel der Anschauungsebenen ein. Wer sich der Orangerie nähert, durchschreitet zunächst einen Garten von zauberhafter floraler Üppigkeit. Parterres und Rabatten von Blumen, Stauden, Sträuchern in sorgfältig ausgesuchten und gruppierten Farben säumen die Wege und laden zum Verweilen ein, ehe man die Räume der Orangerie betritt, wo die Besucher Salven von Ulrike Seyboths neuen Bildern erwarten, die der Opulenz der Gartenkunst in nichts nachstehen. Bedürfte es eines passenden Namens für diesen gemeinsamen Auftritt in historischem Ambiente, wäre kein langes Nachdenken nötig: Le Maître de la Cour et La Belle Jardinière.

Dr. Robert Kudielka | Ulrike Seyboth, Kurt Tucholsky Museum

Einführung zur Ausstellung »fragiles | Ulrike Seyboth« im Kurt Tucholsky Museum, Schloss Rheinsberg und Katalogtext zu »Ich zeichne die Zeit, du malst den Moment, Dialog in Jena« (mit Ingo Fröhlich), Lukas Verlag | 2013

Es war Winter, ein strenger Winter, als van Gogh im Februar 1888, vor ziemlich genau 125 Jahren, in der Provence ankam. Aber das weiße Land, das er sah, war nicht die Winterlandschaft des Midi. Aus Arles schrieb er an seinen Bruder Theo: „Die Landschaften im Schnee, mit dem Weiß der Berggipfel gegen einen Himmel so leuchtend wie der Schnee, waren gerade so wie die Winterlandschaften, welche die Japaner gemalt haben“ (Brief 463). Die Überblendung hielt an, auch nachdem der Schnee geschmolzen war. „Du weißt, alter Junge“, versicherte er dem Bruder im März, „ich fühle mich, als wäre ich in Japan – mehr will ich dazu nicht sagen, und dabei habe ich noch nichts in seinem gehörigen Glanz gesehen“ (Brief 469). Der Nachsatz verdeckt die eigentliche Glanztat, denn van Gogh hatte eben sein erstes Meisterwerk im japanischen Hochgefühl vollendet, die Die Brücke von Langlois, die geradezu funkelt vor leuchtenden Farben, im Himmel, in der Vegetation und in den Gewändern der Wäscherinnen – Farben „wie in Glasfenstern“ (Brief 470), Farben, die so gar nicht dem herben Lokalkolorit des Südens entsprechen.

Was hat diese künstlerische Halluzination mit den Bildern von Ulrike Seyboth zu tun? Indexikalisch, wie man neuerdings gerne sagt, gar nichts, denn die Malerei van Goghs hält sich vorwiegend an die konventionellen Sujets von Landschaft, Stillleben, Porträt und Interieur. Prinzipiell jedoch sehr viel: Vincent van Gogh ist neben Claude Monet derjenige Maler der frühen Moderne des 19. Jahrhunderts, der die Entdeckung der japanischen Farbholzschnitte mit der Farbe von Winterlandschaften in Zusammenhang bringt und damit einen Wandel der europäischen Malerei zu verstehen gibt. Der Raum der Erfahrung änderte sich. Eines Tages, wenn der Streit um Tendenzen, Trends und Theorien dem geschichtlichen Vergessen anheimgefallen ist, wird man vermutlich eine gemeinsame Kondition moderner Malerei klarer sehen: die Bedeutung der weißen Fläche. Das direkte Arbeiten in die weiß grundierte Leinwand, d. h. der Verzicht auf farbige Untermalung und den schichtweisen Aufbau eines Bildes, mag zunächst nur eine Besonderheit der Impressionisten gewesen sein. Doch von heute aus gesehen war die alla prima-Technik die Voranzeige einer Malerei, die im 20. Jahrhundert die Farbe Weiß als Ausgangspunkt und Intervallschwingung zu einem elementaren Faktor des künstlerischen Ausdrucks machte: Matisse, Mondrian, die großen abstrakten Russen (Kandinsky, Malewitsch, Lissitzky) und zahlreiche Maler, die das Erbe des Aufbruchs nach dem Zweiten Weltkrieg weiter entfalteten, stehen für diese Entwicklung. Daneben gewann das weiße Blatt der Zeichnung einen neuen Rang unter den Darstellungsmitteln.

Die Arbeiten von Ulrike Seyboth, die Ölbilder wie die Acrylgouachen auf Papier, gehören in diesen größeren Zusammenhang. Man kann sie auch als abstrakt bezeichnen. Aber das besagt wenig. Denn die abstrakten Bilder, die auf die Farbe Weiß setzen, sind untereinander sehr verschieden. Lediglich eine Kondition ist aller Weißmalerei, der figürlichen wie der abstrakten, gemeinsam: der Abschied von der traditionellen Konzeption eines substantiellen Bildkörpers. Die weiße Fläche ist für Maler wie Ulrike Seyboth kein bloßer Untergrund mehr, keine faktisch neutrale Oberfläche, die durch farbige Bemalung als Basis für den Aufbau einer Komposition – als „Bett“, wie Delacroix gerne sagte – vorbereitet werden müsste. Aber dieser lichte Grund ist auch keine tabula rasa, kein „leeres Blatt“, das passiv der Beschriftung harrt. Man muss sich der vorschnellen theoretischen Simplifikationen entschlagen, um zu erkennen, dass Weiß als Malgrund eine spezifische Räumlichkeit vorgibt: einen hellen, diffusen und zugleich uneinsehbar dichten Lichtraum, der mit jedem Eintrag seine Verfassung ändert – und umgekehrt alle Charaktere, die er aufnimmt, seinerseits erst gehörig zur Geltung bringt.

Setzung und Besetztes bedingen sich gegenseitig. Ulrike Seyboth schreibt dem hellen Geviert Spuren einer diskontinuierlichen Pinselschrift ein, subformale Zeichen, die den tragenden Fond anders hervortreten lassen als feste, in sich geschlossene Formen. So führt die Verwendung geometrischer Formen bei Malewitsch z. B. zur räumlichen Absetzung und Verstetigung der weißen Strahlung als Hintergrund, der manchmal an das goldene, von fernher leuchtende „Sendelicht“ (Wolfgang Schöne) von Ikonen erinnert. Ganz anders die Funktion des lichten Weiß in den Bildern von Ulrike Seyboth. Die lose Streuung und streckenweise Ballung von Pinselzügen, die als diskrete „Zeichen“ anzusprechen fast schon zu weit geht, verwandeln die weiße Matrix in eine mal in sich ruhende, mal heftig wirbelnde Unterströmung, die an manchen Stellen durch die farbigen Cluster bricht oder in kräftigen weißen Strichen über diese hinwegfegt. Eine ähnlich aufgewühlte Bildräumlichkeit lässt sich am ehesten noch in Kandinskys Improvisationen zwischen 1912 und 1914 finden. Aber selbst dort wird die Bewegung vorwiegend durch Graphismen und Farbformen hervorgerufen und gelenkt, während bei Seyboth vornehmlich der Farbfleck die Artikulation bestimmt.

Im Westen erst im 20. Jahrhundert möglich geworden, hat diese Art von Malerei im Fernen Osten eine lange, ehrwürdige Geschichte. Unter der Herrschaft der Sung-Dynastie entwickelte sich im 11./12. Jahrhundert in China eine Tuschmalerei, die von der an die ideographische Schrift anknüpfenden Skripturalität des Vortrags zu einer reinen Fleckenstruktur überging. Die Chinesen nannten diese Malerei „knochenlos“ und haben sie nicht weiterverfolgt. Aber als die Japaner im 15. Jahrhundert den Zen-Buddhismus rezipierten, haben sie sich genau auf diese verworfene Tendenz bezogen und daraus ihre ganz eigene Tuschmalerei entwickelt, die nicht bloß Kunst und auch nicht Philosophie in unserem Sinne ist, sondern eine Art geistiger Übung, die anschaulich das nach europäischem Ermessen schwer vorstellbare Paradox bezeugt, dass das umfassende, tragende Sein gegenüber allem Seienden, dem es Raum und Dasein gibt, genau genommen so viel wie Nichts ist. Die präzise gesetzten Flecken der japanischen Tuschmaler verwandeln aufgrund ihrer Gewichtung von Schwarz nach Grau und der dynamischen Korrelationen die scheinbare Leere des weißen Papiers in die Anschauung einer dichten, als unendlich erahnbaren Offenheit des Raums.

Ulrike Seyboth kennt dieses Echo ihrer Malerei in der alten Bildkunst und geistigen Haltung des Fernen Ostens; und gerne würde sie für einen Studienaufenthalt nach Japan gehen, auch auf die Gefahr hin, dort mitunter den grotesken Afterbildern der westlichen Moderne zu begegnen. Doch ihre „knochenlose“ Malerei bewegt sich trotz dieses Anklangs unvermeidlich in einem anderen, europäisch geprägten Bezugsfeld. Einmal kann sich die Fleckenstruktur ihrer Bilder nicht auf die kulturelle Voraussetzung einer bildhaften Schriftkunst stützen: Obschon die Pinselführung in den Ölbildern gelegentlich in die Nähe von Buchstaben wie „O“, „i“, „e“ oder „M“ gerät und in den Gouachen und Skizzenbüchern häufig sogar Wortfetzen auftauchen, bleiben diese Andeutungen eher vor-sprachlich, der unwillkürlichen Nähe der Pinselspur zum Gestus der Schrift geschuldet. Zum anderen ist der spontane Vortrag keine jäh aus der Meditation hervorschnellende Handlung, kein Akt, der mit der Performance eines Schwertkämpfers verglichen werden könnte, sondern eher ein Austasten, Aufwerfen und Retraktieren, das, wie die Malerin sagt, aus der „Stille“ entspringt. Kurzum, ein „Flecken“, wenn man das Wort im Sinne der Goethezeit einmal als Verbum versteht: „Es fleckt nicht“ hieß unter Dichtern damals, die Arbeit geht nicht voran, die Sachen finden nicht, noch nicht den rechten Ort. Alles wird offenbar gut, wenn „es fleckt“.

Da dieses Vorgehen mit der fernöstlichen Tuschmalerei immerhin so viel gemein hat, dass es von keiner zielgerichteten Absicht geleitet, d.h. nicht vom Selbstbewusstsein des Malers dominiert wird, ist die privative Bestimmung, von einem „unbewussten“ Prozess zu reden, nicht schlichtweg falsch. Aber als André Breton im Ersten Surrealistischen Manifest (1924) dieses Verfahren einer eigenen Instanz, dem eben entdeckten „Unbewussten“, zusprach und einen „reinen psychischen Automatismus“ und ein „Denk-Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft“ postulierte, war die Grenze der ästhetischen Redlichkeit und kunstpsychologischen Korrektheit überschritten. Bretons Kronzeuge für die malerische „écriture automatique“, André Masson, wurde in den 1930er Jahren sein schärfster Kritiker, weil dem Maler bei der Begegnung mit der fernöstlichen Tuschmalerei der flagrante Widerspruch aufging, dass sich eine solche, nicht von der subjektiven Kontrollinstanz gegängelte Kunst gerade einer überwachen, gesteigerten Bewusstheit verdankt. Ulrike Seyboth hat diesen Widerspruch für sich auf einer schlichteren, weniger kontroversen Ebene beigelegt, indem sie von dem „Dialog“, der ihre Arbeit bestimme, spricht. Damit knüpft sie an die pragmatische Genauigkeit von Jackson Pollocks berühmten Statement aus dem Winter 1947/48 an, in dem der amerikanische Maler von einem „eigenen Leben des Bildes“ spricht: „Ich versuche es durchkommen zu lassen. Nur wenn ich den Kontakt mit dem Bild verliere, ist das Resultat verworren. Ansonsten herrscht reine Harmonie, ein leichtes Geben und Nehmen (an easy give and take), und das Bild wird gut“.

Aber was ist das, was in diesem Austausch verhandelt wird? Diese Frage lässt sich am Ende wohl nicht gänzlich unterdrücken. Als ich Anfang Januar nach dem Besuch von Ulrike Seyboths Berliner Atelier abends den Weg durch den Ernst-Thälmann-Park zum S-Bahnhof Greifswalder Straße suchte, begann mich am Rande der bedrohlich dräuenden Kulisse des Denkmals ein seltsamer Wortschwall heimzusuchen, ein „angewintertes Windfeld“ von Wörtern wie: „ausgewirbelt“, „unumschürt“, „umbuscht“, „durchblubbert und umpaust“, „traumdicht“. Anderntags wurde mir klar, dass es nicht mein philosophisches Gedächtnis war, das mir diesen Streich spielte. Es war das Vokabular eines Dichters, das von den im Atelier gesehenen Bildern evoziert wurde: „Lichtschaum“ und „Atemkristall“, „Sekundengeflirr“ und „Klinkerspiel“, „wortdurchschwommen“ und „augenwandlerisch“ bis zur Benennung von Farben wie „abweltweiß“, „zeitgrün“, „zielblau“, „rotverloren“. Es besteht offenbar eine Beziehung zwischen der Malerei Ulrike Seyboths und der Dichtung Paul Celans.

Diese Beziehung beruht nicht auf einer inneren Nähe der Gehalte, sondern auf der Ähnlichkeit der poetischen und der malerischen Verfahrensweise, die jeweils auf einer Abwendung vom gewohnten Umgang mit Worten und Bildern beruht. Celan kündigt den geläufigen Sprachgebrauch, der Worte schlicht als Bezeichnungen von etwas versteht, auf, indem er die direkte Beziehung zwischen Wort und Ding verlegt oder sperrt, ohne jedoch die Intention auf Bedeutung auszusetzen. Ähnliches gilt von den Markierungen in den Bildern von Ulrike Seyboth: Die Pinselstriche sind keine Zeichen für irgendetwas – und trotzdem ist diese Faktur keineswegs sich selbst genug, „selbst-referentiell“, wie das gelehrte Kunstwort lautet. Beiden Künstlern geht es offenbar darum, gegen das, wie Celan sagt, „bunte Gerede des Anerlebten“ – beziehungsweise, auf die Malerei hin gesprochen, gegen das belanglose Ausmalen von Anerkanntem – etwas geltend zu machen, was sich der geläufigen Bezeichnung und Benennung entzieht … und eben dadurch umso bezwingender hervortritt, wenn es zur Darstellung kommt. Das ist so wenig mysteriös wie der Umstand, dass wir alle verstehen, was mit der Behauptung, jemand habe „das Herz am rechten Fleck“, gemeint ist, ohne dass einer sagen könnte, wo genau sich dieser Ort befindet.

Allerdings ist der Raum, den Celans Dichtung erschließt, so eindeutig verschieden von dem der Bilder Ulrike Seyboths, dass er eine leicht zu übersehende Besonderheit ihrer Malerei einfacher und klarer zu fassen erlaubt. Celans Aufbegehren gegen den Lichtzwang, wie der Titel einer seiner Gedichtsammlungen lautet, setzt der „Lidlosigkeit“ des Sehens, der erstarrten Wahrnehmung, die nicht einmal mehr die Unterbrechung durch den Wimpernschlag kennt und, wie das Echo äfft, ebenso lieblos wie liedlos ist, das Dämmerlicht, den Wortschatten und die Worthöhle entgegen. Dagegen ist der Bildraum Ulrike Seyboths von einer strahlenden, morgendlichen Winterhelligkeit erfüllt, in der die Trikolore Hellblau, Weiß und Bläulichrot, mit der schon Monet die Stubenhocker des 19. Jahrhunderts schreckte, eine hinreißende, aller Heimeligkeit abholde Frische und Klarheit verbreitet. Anscheinend kann „die durch uns lebendige / herrlich-undeutbare / Flut“, die der Dichter einmal erstaunlich direkt beschwört, sehr verschiedene Gesichter annehmen.

Der offenkundige Gegensatz hilft am Ende der Versuchung zu widerstehen, vielleicht doch noch nach dem einen „Leuchtschopf Bedeutung“ (Celan) Ausschau zu halten. Stattdessen soll ein Gedicht das letzte Wort haben, das trotz der Nennung der abweichenden Tageszeit und Temperatur als ein Gruß des Dichters an die entfernt verwandte Malerin gelten darf:

„Als Farben, gehäuft,
kommen die Wesen wieder, abends, geräuschvoll,
ein Viertelmonsun
ohne Schlafstatt,
ein Prasselgebet
vor den entbrannten
Lidlosigkeiten.“

Eröffnungsrede zur Ausstellung Ulrike Seyboth: fragiles
im Kurt Tucholsky – Literaturmuseum am 23.2.2013

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Sämtliche Zitate von Paul Celan entstammen den Gedichtbänden Atemwende (1967) und Fadensonnen (1968).

Frizzi Krella | Farbe und Linie im Unendlichen

»Das Wichtigste ist die Kraft, sich zu konzentrieren. Ein Leben ohne die Kraft zur Konzentration ist, als ob man die Augen öffnete, ohne zu sehen.« Haruki Murakami, Schlaf

In der Kraft zur Konzentration auf Farbe und Linie, ganz aus der Geste des Körpers heraus, als Impuls des Moments im Dialog mit der Leinwand oder in erdachten Ordnungen mit dem Strich der Linie folgend, entstehen die Arbeiten von Ulrike Seyboth und Ingo Fröhlich. Leere offenbart sich in der Fülle und Fülle gleichsam in der Leere. Es ist ein Prinzip des Zen-Buddhismus, das von der gleichzeitigen Existenz von Sein und Nichts ausgeht und dem sich die beiden künstlerischen Ansätze anzunähern versuchen. Es sagt etwas aus über den Umgang mit Fläche und Raum und wie durch das Ausbreiten von gewachsenen Flächen im Bild, ob mit Farbe oder Bleistift, die Leere Form annimmt. Der Zwischenraum wird zur Gestalt. Es ist eine Art Vexierspiel, changierend zwischen Leere und Gesetztem. Ihre Werke – so unterschiedlich sie auf den ersten Blick wirken – hängen in der Berliner Ausstellung nebeneinander und sich gegenüber, sie treten miteinander in Wechselwirkung, beginnen zu schwingen, Impulse weiterzugeben und sich zu verwandeln. Die grafischen Rhythmen, die in Ingo Fröhlichs wogenden Linien wie Wasser langsam in Bewegung geraten, werden von Ulrike Seyboths farbig kraftvollen Kondensaten aufgenommen und erheben sich als expressive Klangwolke.
Malerei und Zeichnung – diese uralte Verbindung – treten in dieser Ausstellung in einen sensiblen Dialog miteinander. Ein Zwiegespräch zwischen Rhythmus und Duktus, Dichte und Leere, Fläche und Raum.

Die Malerin Ulrike Seyboth empfängt mich in ihrem sonnendurchfluteten Atelier zwischen ihren farbenprächtigen großformatigen Ölgemälden. Es ist eine Symphonie aus Rot, Orange und Rosé. In der Mitte des Raumes steht ein kleiner Tisch mit Erdbeeren und Madeleines au thym und wir trinken Crémant – fast wie in Octon auf der Place Paul Vigne. Der kleine Ort Octon am Lac du Salagou im Languedoc ist das geliebte Domizil, welches das Künstlerpaar seit vielen Jahren ins Herz geschlossen hat. Wir sprechen über die Malerei und Frankreich, über die geplante Ausstellung in Sens und schauen auf ihre Bilder. Währenddessen gleiten zarte Schatten von filigranen Zweigen poetisch über das milchige Matt der Atelierfenster und tauchen alles in eine sommerliche Leichtigkeit.
Aus der Vielschichtigkeit ihrer Malerei springt mir das Rot in seiner Intensität entgegen. Es ist voll von beglückender Energie. Die Farbe Rot, als magische Farbe seit jeher, ist wie Schwarz und Weiß bereits in den vorzeitlichen Höhlen wie der Grotte de Chauvet zu finden. Sie ist damit unweigerlich an den Ursprung menschlichen Seins gebunden und tief im Lebendigen verwurzelt.
Ulrike Seyboth malt mit verschiedenen Pinseln, mit ihren Händen, mit Stiften und Kreiden, druckt farbige Formen und findet intuitive Linien. Sie setzt eine erste Spur, eine écriture, und folgt dieser Linie mit Neugier und dem ganzen Körper in tänzerischer Bewegung über die Leinwand hinaus. Am Anfang war das Wort, ein Zeichen, eine Geste. Ihre Bilder entstehen im prozesshaften Dialog mit dem bereits Gemalten. Gesetzte Spuren inspirieren immer wieder zu neuen Ausgangspunkten, bis sich in der malerischen Befragung der Leinwand durch Aktion und Reflexion das Bild zeigt. Oftmals arbeitet sie an mehreren Gemälden gleichzeitig, als eine Öffnung in die Unendlichkeit, in die Unendlichkeit malerischer Möglichkeiten. Und gleichsam offenbart jedes Bild das Abenteuer einer Reise in das eigene Innere der Malerin.
In ihrer experimentierfreudigen, vom Abstrakten Expressionismus inspirierten Malerei ist sie immer wieder dabei, das künstlerische Grundvokabular neu zu erfinden und die malerischen Grenzen zu befragen und auszureizen. Vom mutigen Auswaschen der Farbe bis hin zu großflächigen Übermalungen sucht sie in jedem Bild ein équilibre, die Balance der Ganzheit. Neben den intensiven Couleurs benutzt Ulrike Seyboth die Farbe Weiß in all ihren Schattierungen, um Gezeichnetes und Geschichtetes teilweise wieder abzudecken. Weiß als diaphaner Übergang scheint mit dem Prozess der Transformation verbunden zu sein als eine Grenzüberschreitung vom Sichtbaren zum Unsichtbaren, vom Materiellen zum Spirituellen, vom Bewussten zum Unbewussten. Ulrike Seyboths Bilder lassen existenzielle Emotionen spürbar werden. Und ebenso fangen sie das Licht der Welt ein, sei es unterwegs mit dem Atelier vagabondoder im Atelier in Berlin. Ulrike Seyboth arbeitet seriell. 2016 entstand während eines Aufenthaltes im Salento, im Süden Italiens, das Bild IONIAN SEA, das den Anfang einer umfangreichen Serie bildet. Über zehn großformatige Gemälde folgten. Diese Malereien – ein Universum aus Schwüngen, aus Kreisen, Kurven und Flecken, aus Spuren – türmen sich vor uns auf wie fantastische Wolkenbilder, wie ein Himmel voller Farben und ekstatischer Momente, wild und zärtlich, ungebändigt und still. Ihre Farbigkeiten wandeln sich im Verlauf ihrer Entstehung. Diese feinen Verschiebungen und Farbbewegungen werden beim Zurückschauen auf die vorhergehenden Bilder sichtbar. Die Proportionen ändern sich, ihre Gewichtungen, ihre Verteilungen und ihr Duktus.
Jede Serie birgt ihren eigenen Charakter und die Bilder folgen ihren eigenen Gesetzen. In der kleinformatigen Serie études, 2015/16, entdecken wir die großartige Kraft und Ausdrucksstärke des Pinselstrichs in besonderer Konzentration. Es ist eine Reihe von dichten Farbschichtungen, gemalt mit einem intensiven Pinselstrich. Doch es gibt auch sehr leichte, fast kalligrafisch laszive Spuren, wie zum Beispiel in der Serie Snow Tracks, 2012–2015.
Parallel zu ihren Gemälden auf Leinwand entstehen seit 2017 farbige Collagen, die sie aus verworfenen Papierarbeiten als pièces perdues ausschneidet, zu kleineren und größeren Kompositionen legt und klebt, übermalt und zusammensetzt. Die sechzehnteilige Arbeit Gymnopédie en bleu, 2019, ist eine Hommage an Eric Satie, der in seinem gleichnamigen Klavierstück sowohl Stilelemente der Gregorianik als auch der Salonkultur miteinander verband. Während Saties Gymnopédies, 1888, durch die stetige Wiederkehr weniger Akkorde berührt, die mit einer einfachen und ruhigen Melodie verbunden wird, sind es in den Collagen von Ulrike Seyboth wiederkehrende Fragmente und Farbinseln, die zu einer immer wieder neu geschaffenen Gesamtkomposition führen. Sie eröffnen ein Universum unendlicher Vielfalt und Schönheit, schöpfen aus ihrem eigenen malerisch zeichnerischen Kosmos. Darin spiegelt sich das freudvolle Wechselspiel unendlicher Variationen mit Zufälligkeiten wider. Fall und Zufall begegnen sich auf dem Papier.

Während Ulrike Seyboth in ihren Arbeiten die komplexen Zusammenhänge von Licht und Farbe untersucht, analysiert Ingo Fröhlich mit den Mitteln und Möglichkeiten der Zeichnung die Natur und die Landschaft, ihre Bewegung und Veränderung. Dem Zeichnen als komplexem Vorgang geht ein jahrzehntelanges Suchen und Erkennen voraus, bevor die Vorstellungen über die Bewegung der Hand auf dem Papier Gestalt annehmen. Die Arbeiten Ingo Fröhlichs widmen sich systematisch-konzeptuellen Erkundungen der Zeichnung über die Grenzen des Papiers hinaus. Dabei spielen Zeit und Raum ebenfalls eine wichtige Rolle. Der Titel Strich zur Linie, 2021, der gleichnamigen Wandzeichnung in der Guardini Galerie verweist auf ein wesentliches zeichnerisches Prinzip Ingo Fröhlichs in seinem vielschichtigen Œuvre. Aus einem tiefsinnigen subtilen Abtasten erwachsen im Prozess des Zeichnens Erkenntnisse zur Wahrnehmung und Transformation von Welt, die in der Linie ihre Gestalt finden. »Zeichnungen sind Konzentrate von Zeit und Raum, Zukunft und Vergangenheit, psychischer, geistiger bis metaphysischer Erfahrung und Denken.« (Lucie Beppler)
Wir saßen in der Guardini Galerie in Berlin beim Ausstellungsaufbau zusammen, ruhten kurz aus. Ingo Fröhlich griff nach einem Stück weißer Kreide und begann, einem inneren Impuls folgend, mit ruhiger Hand auf der schwarzgestrichenen Wand einen Strich zu ziehen. Leicht geschwungen zeichnete er eine Linie, es folgten eine zweite, eine dritte, eine vierte. Der Abstand der ersten Linie zur zweiten gab das Intervall vor. Diesem Rhythmus folgend, zog er Linie um Linie. Die Kreide hinterließ weiße, flächige Spuren aus vielen kleinen Kreidepunkten, die sich zu den Rändern hin unregelmäßig öffneten. Ein gleichmäßiges raues Geräusch begleitete jede Bewegung der Kreide auf der Wand, jedes Ziehen einer Linie. Strich zur Linie so lautet der Titel dieser Raumzeichnung.
Linien verwandeln die Fläche. Sie spielen mit Raum, Tiefe und Illusion. In einer zweiten Wandzeichnung nahm Ingo Fröhlich die im Raum vorhandenen Lüftungsrohre und deren Wicklungen auf und führte diese nunmehr zweidimensional als Zeichnung in Kreissegmenten von einem Raum in den nächsten, vom Obergeschoss in das Untergeschoss an der Wand fort.
Als ich das Atelier von Ingo Fröhlich in der Berliner Torstraße 111 an einem kühlen Wintertag zum ersten Mal betrat, flackerte ein Feuer im Ofen, die Teekanne stand darauf. Ingo Fröhlich schenkte ein und legte Scheit um Scheit nach. Von den Wänden herab hingen seine großformatigen Zeichnungen in einem eigens dafür erfundenen Hängesystem. Immer wieder wurde umgehängt, um neue Diptychen und Triptychen von Zeichnungen zu präsentieren. Strich um Strich gearbeitet aus dem Rhythmus der Bewegung heraus – so wie in seinen Raumzeichnungen. Darin öffnet sich ein Kosmos schier unendlicher Möglichkeiten der Zeichnung, eines unendlichen Vokabulars im Notieren von erfahrener Welt. Das Atelier ist für ihn ein Raum der Erkundungen von Linien und Formen, von Zeichnungen und Installationen, Ordnungen und Anordnungen, von Wegen und Umwegen. Hier atmet die Freude und Lust am Experimentieren und Variieren. Die Wände sind angefüllt mit Skizzen und Notationen. Das Atelier ist ein unverzichtbarer Ort der Erkenntnis.
Wir stehen vor seinem großformatigen Triptychon Windstriche, 2019, einer zeichnerischen Partitur von Bewegungen, Strichungen von Windströmungen, die Ingo Fröhlich in einen Duktus von bewegten und kräftigen Strichen übersetzt hat. Sie gehen über den Rand des Zeichenblattes hinaus und zeigen selbst in ihrer monumentalen Dreiteiligkeit immer nur einen Ausschnitt des Universums. Er folgt in seinen Zeichnungen dem Wechselspiel der Natur, ihren Erscheinungen und Formen, ihren Phänomenen und Gesetzmäßigkeiten, ihrer unendlichen Erscheinungsvielfalt. Es ist ein seismografisches Abtasten von Struktur und Schraffur und die Übersetzung und Abstrahierung zur Linie.
Das Spektrum seiner Zeichnungen reicht von streng konzeptuellen Kompositionen auf Papier und im Raum bis hin zu leichthändig lockeren Landschaftsskizzen, die auf Autofahrten quer durch Europa oder in stiller Abgeschiedenheit während des Atelier vagabondentstanden. Die Bleistiftskizzen seiner »Roadmovies« sind Ausblicke durch die Frontscheibe des Busses, die sich wie gezeichnete Filmstills aneinanderreihen. In jenen tagebuchartigen Partituren schreiben sich Moment und Zeitlichkeit durch rasch gesetzte Striche in großer Intensität und Dichte ein.
Ingo Fröhlich konjugiert seine Bildideen mit konzeptueller Kontinuität durch, in Reihungen und Paarungen, die Differenz des Gleichen, die Themen immer wieder variierend.

Seit zehn Jahren begeben sich Ulrike Seyboth und Ingo Fröhlich gemeinsam auf Reisen. Sie brechen als Atelier vagabond in die Ferne auf. Meist zieht es sie in den Süden, nach Frankreich, nach Italien. Aber auch in den hohen Norden, nach Island und Finnland, unternahmen sie ihre gemeinsamen Arbeitsreisen. Dieser Aufbruch verheißt, den Ballast des Alltags hinter sich zu lassen und nur das Nötigste mitzunehmen: Papier, Leinwand, Farben und Graphit. Während sie in Berlin an unterschiedlichen Orten in ihren eigenen Ateliers arbeiten, teilen sie sich unterwegs ein gemeinsames Atelier, verbinden sich mit dem Ort und richten sich gemeinsam ein. Die entstehende Freiheit kann gemeinsam gefüllt werden mit lichtdurchfluteten Erlebnissen, Begegnungen und künstlerischer Arbeit. Die Fremde aktiviert eine andere Wachheit, sie setzt Neugier und eine besondere Offenheit gegenüber den Menschen frei. Leicht und unbeschwert entsteht während des Vagabundierens eine Fülle neuer Arbeiten. Unterwegssein heißt, sich auf den Weg zu machen, zu suchen, zu ergründen, zu zweifeln und Neues zu wagen. Dieser Sehnsucht, die dem Atelier vagabond innewohnt, gesellt sich der Traum hinzu, einmal einen Ort für das gemeinsame Leben und Arbeiten – zur Kraft und Konzentration, vielleicht im südlichen Licht Frankreichs – zu finden. Ein Haus mit Atelier und blühendem Oleander, pink und rosé. Einen Ort der Inspiration.

Dr. Antje Lechleiter | Ich zeichne die Zeit, Du malst den Moment, Ulrike Seyboth & Ingo Fröhlich

»Einführung zur Ausstellung: Ich zeichne die Zeit, Du malst den Moment, Ulrike Seyboth & Ingo Fröhlich«, Kunstverein Schopfheim, Dr. Antje Lechleiter | 2019

Sehr geehrte Damen und Herren,

im beginnenden 16. Jahrhundert tobte ein Streit zwischen den rivalisierenden Städten Florenz und Venedig: Die Maler der Lagunenstadt galten als Meister der Farbe, doch ihnen wurde vom Kreis um Michelangelo die Fähigkeit abgesprochen, virtuos mit dem Zeichenstift umgehen zu können. Die Konkurrenz zwischen Zeichnung und Malerei, Kontur und Kolorit flammte zwischen den Rubenisten und Poussinisten im 17. Jahrhundert und zwischen den Anhängern von Ingres und Delacroix im 19. Jahrhundert wieder auf. Während sich die Positionen einst unversöhnlich gegenüberstanden, münden sie bei Ulrike Seyboth und Ingo Fröhlich in ein kooperatives Projekt: „Ich zeichne die Zeit, Du malst den Moment“ ist ein Dialog über Kunst und ein inspirierendes Wechselspiel zweier Künstlerpersönlichkeiten.

Die Zusammenarbeit begann 2012, doch die beiden kennen sich schon viel länger, sie studierten nämlich in den 1990er Jahren im selben Semester an der Kunsthochschule Berlin Weißensee. Ulrike Seyboth war für Malerei eingeschrieben, Fröhlich für Bildhauerei. Als sie sich fast 10 Jahre später zufällig wiedertrafen, entdeckten sie überraschende, gemeinsame Ansätze. Bei beiden bildet die Natur einen wichtigen Ausgangspunkt, bei beiden steht der Arbeitsprozess stark im Vordergrund, doch ganz zentral ist das gemeinsame Thema „Weiß“ bzw. die „Leerstellen“ im Bild. Jene erscheinen als Verweis auf den Bildträger, also auf die Leinwand oder das Papier, auf dem Volles und Leeres nebeneinander stehen und dabei ein und denselben Zustand beschreiben. Um dies zu konkretisieren: In Fröhlichs Zeichnungen sowie in der Malerei von Ulrike Seyboth ruht die Aufmerksamkeit des Betrachters im gleichen Maße auf dem Gestalteten wie dem Ungestalteten, und man kommt nicht umhin, dabei an die im Zen-Buddismus so zentrale Gleichzeitigkeit von Sein und Nichts zu denken. Form ist Leere, Leere ist Form. Die Ästhetik spricht von Unbestimmtheitsstellen im Bild, das heißt, dass ein Kunstwerk punktuell unvollendet zu sein scheint, um sich dann im Betrachter zu vollenden. Diese Leerstellen, bilden also so etwas wie Scharniere, die Blicke auf bestimmte Beziehungen öffnen, sie öffnen Räume der Interaktion zwischen Bild und Betrachter.

Ingo Fröhlich sagt: „Zeichnen erklärt mir die Welt, durch das Zeichnen erfahre ich etwas von der Welt“. In der Tat setzt er sich mit seiner Gabe der genauen Beobachtung und über die grafische Markierung auf dem Papier mit der Welt und der Wirklichkeit auseinander und er hat sich dabei die Natur der Natur angeeignet. Es ist es kaum möglich, die Umgebung genauer wahrzunehmen, kleinste Teilaspekte von Form und Struktur schärfer zu analysieren, als dies beim Zeichnen der Fall ist. Seine Werke entstehen im Atelier, doch früher hat Fröhlich viele Naturstudien gemacht. Im Jahr 2014/15 ist er bei einem Aufenthalt in Plüschow wieder darauf zurück gekommen und dabei sind auch diese beiden Zeichnungen mit dem Titel „Gewirk“ entstanden. Sie zeigen, dass florale Elemente hier durchaus eine Rolle spielen, er natürlichen Erscheinungsbildern nachspürt.

Eine reine Fantasiewiese zeigt hingegen das Blatt mit dem Titel „Aus der Sicht des Zwerges“. Von Anfang an war ihm klar, dass er sich beim Zeichnen wie ein Zwerg würde durch ein Dickicht hindurch kämpfen müssen und so schöpfte er aus seiner Freude an den Strukturen, die über seinen Strich im Bild angewachsen sind. Uns geht es beim Betrachten ganz ähnlich, wir befindet uns mitten zwischen den Pflanzen, bahnen uns mit den Augen einen Weg durch das Gestrüpp.

Abstraktion oder Gegenständlichkeit bilden für ihn keinen Widerspruch, alles wird während des konzentrierten, oft langwierigen Zeichenprozesses, Strich für Strich und damit über das Verstreichen von Zeit, untrennbar miteinander verknüpft. „Ich versuche, alles Narrative auszulöschen“, sagt der Künstler, „und mich nur auf die Strichführung zu konzentrieren. Was dann übrig bleibt, ist die Zeit.“ Das Bild ergibt sich aus dem Arbeitsprozess, also aus der Handlung heraus. Die Entscheidung für eine bestimmte Strich- oder Linienführung ist wichtiger als eine inhaltliche Fragestellung. Es geht um die Verwirklichung einer zeichnerischen Idee, wie etwa um den Rhythmus sich wiederholender Strichformationen, um die Verschiedenartigkeit von Strukturen und Übergängen.

Vielleicht wird das an dieser riesigen Wandzeichnung oder, besser, Raumarbeit mit dem Titel „Hommage à Luc Simon“, besonders deutlich. Mit dem Stift hat Ingo Fröhlich hier die Wand und damit auch den Raum abgetastet. Die Körperbewegung, aus der dieses Werk erwachsen ist, wird eindrücklich erfahrbar, gefragt ist aber auch der bewegte Betrachter, der vor und zurück tritt, die Wirkung der Zeichnung aus unterschiedlichen Entfernungen erkundet. Diese Raumarbeit zeigt seine Herkunft von der Skulptur, doch auch in den Zeichnungen findet sich ein bildhauerischer Ansatz. Vergleichbar den Hohlräumen, den offenen Raumformen einer Plastik, bestimmt das Nichtbezeichnete die Zeichnung und der Strich bildet nur dessen Umriss.

Der große 12-teilige Block („Streugut“) zeigt einen sich schrittweise entfaltenden Prozess. Man könnte von einzelnen Wörtern sprechen, die sich über die einzelnen Striche formulieren. Blatt für Blatt reihen sie sich zu Sätzen aneinander, die von dem handeln, was der Künstler die „Differenz in der Produktion des Gleichen“ nennt.

Ulrike Seyboth charakterisiert ihre Werke sehr schön, wenn sie von einer „eindringlichen Heiterkeit“ spricht. Auch ihr ist der Prozess des Machens wichtig, doch während Fröhlichs Entscheidungen früher fallen und er schon von Anfang an weiß, in welcher Geschwindigkeit und mit welchem Strich er vorgehen wird, bezieht Seyboth den Zufall als gestalterische Kraft mit ein. Zu einem dominierenden Element wird das nicht Planbare allerdings nicht, eher erleben wir das Ergebnis eines Prozesses, der einer Pendelbewegung zwischen einem automatischen Verfahren und einem reflektierten Vorgehen entspringt. So vergeht eine ganz Weile, bis Seyboth den ersten Strich macht und sie prüft auch ihr weiteres Vorgehen genau, fragt sich: Wann ist das Bild ein Bild? Wann hält die Komposition zusammen und wann bricht sie auseinander? Und ganz wichtig: Wann ist das Bild fertig? Mit ihren skripturalen Elementen wirken manche Werke wie kleine Briefe oder Schriftstücke, andere verfügen über die flüchtig-momentane Bewegung eines Tanzes. Seyboth sagt, dass sie zu Beginn ihrer Arbeit nicht weiß, wohin sie der Arbeitsprozess führt, dass das Unbekannte eine große Rolle spielt. Unbewusst reflektiere sie durch ihre Bilder die Welt und die Art, wie sie jene wahrnimmt. Sich selbst bezeichnet sie als eine „Lichtmalerin“, für die die Landschaft, die Natur eine wichtige Rolle spielt. So verwundert nicht, dass die drei eher dunklen, blauen Kompositionen, die wir in dieser Ausstellung finden, allesamt im Winter entstanden sind.

Betrachten wir Arbeiten wie die großformatige Komposition „Ionian Sea“ von 2018, das Bild Ihrer Einladungskarte, dann scheinen sich diese Kompositionen in alle Richtungen hin auszudehnen und sie vermitteln ein Gefühl von Grenzenlosigkeit. Die Materialität der Farbe offenbart die Bewegung der gestaltenden Hand und macht den Malprozess an sich zum Bildthema. Der Farbauftrag erfolgte nicht nur in Öl und mit dem Pinsel, hier zeichnete die Künstlerin auch mit Ölkreide in ihr Bild hinein und drückte blaue Papierringe ab, die von ihren Collagen stammen. Dazu kam ein subtraktives Vorgehen, bei dem sie Farbe mit dem Messer auch wieder weg nahm. Dieser rhythmisch erfolgende Farbauf- und -abbau zeigt, dass es nicht nur um das fertige Werk geht, sondern auch um den Weg dorthin, um einen Weg, der das Wagnis und die Gefahr des Scheiterns mit einkalkuliert, das Überwinden von Widerständen und den Mut, Risiken einzugehen beinhaltet. Zu diesem Gedanken passt, dass der Titel „Ionian Sea“ natürlich Assoziationen an Odysseus Heimatinsel Ithaka und seine zehnjährige Irrfahrt weckt. Und herausgefordert sind auch wir als Betrachter, wir brauchen Abstand und Zeit, um uns diesen Werken zu nähern. Doch wenn wir dann mit unseren Augen in diese opulenten Farbräume eintreten, dann entfaltet die Schönheit von Farbe und Form eine geradezu meditative Wirkung.

Seit etwa 1,5 Jahren entstehen auch Collagen, die durch den Abstand zu ihrem Untergrund und den Schattenwurf an den Rändern etwas Objekthaftes bekommen. Das Schneiden von Papier veränderte übrigens auch ihre Leinwandarbeiten. Denn die Linie wurde nun wichtiger und fand durch die Verwendung von Ölkreiden Eingang in die Malerei.

Sehr geehrte Damen und Herren, es ist ein schöner Dialog zwischen Malerei und Zeichnung, dem wir hier lauschen können. Die Malerei von Ulrike Seyboth und die Zeichnungen von Ingo Fröhlich  haben nichts Lautes, sie strahlen Ruhe aus, sie konzentrieren Kräfte im Raum und sind ein Angebot zur Stille. So sehen wir sich im Untergrund des Blattes verflüchtigende Linien, wir hören die Stille nach dem Rauschen des Ionischen Windes, wir erspüren eine zum Stillstand gebrachte Bewegung. Wir erleben drei verschiedene Arten des Überganges von Sein und Nichts.

Erik Stephan | Ich zeichne die Zeit, du malst den Moment – Dialog in Jena

Katalogtext »Zur Zusammenarbeit von Ulrike Seyboth & Ingo Fröhlich: Ich zeichne die Zeit, du malst den Moment – Dialog in Jena«, Kunstsammlung Jena | 2015

Mit Ulrike Seyboth und Ingo Fröhlich haben sich zwei Künstler von ausgeprägter Eigenart auf ein gemeinsames Arbeiten und Ausstellen verständigt. „Dialog in Jena“ ist ein weiteres Kapitel in jener Folge von Kooperationen, die unter dem poetischen Titel „Ich zeichne die Zeit, du malst den Moment“ im Jahr 2012 mit einer gemeinsamen Ausstellung begann. Die Arbeiten von Ulrike Seyboth, die mit expansiver Dynamik auf die Leinwände hinausdrängt und das Zusammenspiel der Farben im Raum erkundet, begegnen in der Jenaer Ausstellung den sensitiven, von Rhythmus und kalkuliertem Spiel bestimmten Zeichnungen von Ingo Fröhlich. Egal, ob sich die Bildräume in impressionistischer Fülle mitteilen oder die feinen Linien des Bleistiftes den Raum in Netze einweben, in beiden Fällen sind es Bewegungen, die in der Zeit sind und aus innerer Bewegtheit herrühren. In dieser Weise gepolt, ist das, was sich zunächst so gegenteilig entbietet, näher beieinander als dies der erste Blick offenbart. Bemerkenswert ist, dass Eigenarten, die in Form und Rhythmus eigentlich einander entgegen stehen sollten, sich in der Begegnung aufheben, übereinkommen und den Blick auf die Arbeiten des Anderen verändern. Die Spiegelung des Einen im Anderen verweist jedoch auf durchaus vergleichbare Ansätze und erlaubt zugleich einen Blick auf die Kraft und Fülle der individuellen Imaginationen.

Beide, Ulrike Seyboth und Ingo Fröhlich, sind in ihren Werken fortgeschritten, authentisch und charakteristisch, so dass die Inanspruchnahme gemeinsamer Quellen den artistischen Dualismus wohl eher anfeuert als behindert. Die Natur, die man während gemeinsamer Arbeitsaufenthalte in Deutschland, Frankreich oder Island durchforscht und erfährt, steht am Beginn aller Werke, lenkt Gestaltbildung und künstlerische Transzendenz und wird in ihrem Wirklichkeitsbestand so weit reduziert, dass sie zur metaphorischen, formbaren Ursubstanz der Arbeiten werden kann. In dieser Weise losgelöst, behindert kein Vergleich mit der Wirklichkeit die freie Bildung der Zeichen, die, nun subjektiv und allein dem künstlerischen Empfinden verpflichtet, neu entstehen.
Dennoch unterscheiden sich beide Künstler durch Herkunft und Lebensweg ebenso deutlich wie durch die Formen und Temperamente ihrer bildnerischen Entäußerungen.

Da ist zunächst Ulrike Seyboth, die Malerin, deren Leinwände in nahezu impressionistischer Farbenfülle viel von der Entdeckungslust jener Maler haben, die am Ende des 19. Jahrhunderts die Wirkung der Farben im Licht erkundeten und damit die Malerei nicht nur aus der kanonischen Wiederholung altbekannter Sujets, sondern auch zu neuen Freiheiten geführt hat. Diese neue Form der Gegenwärtigkeit löste die Malerei inhaltlich und formal von der Geschichte, ermutigte die individuelle Erregung und mündete in Formen, deren Gegenstandsferne durch Empfindung und Analyse gleichermaßen beglaubigt wurde. Das Sehen im Licht wurde beweglicher, die Naturwissenschaften lieferten Erklärungen und zerbröselten den Glauben an die Gültigkeit der ewigen, geschlossenen Form. Ulrike Seyboth knüpft hier an. Sie malt mit Leidenschaft aus der Fülle dessen, was sie aus innerer Eingebung und künstlerischem Vermögen erfährt. Der Skeptizismus, der die Impressionisten antrieb, ist nunmehr Geschichte, wenn auch eine mit bedeutsamen Folgen, die bis in die aktuelle Malerei nachwirkt, diese jedoch nicht bestimmt. Bei Ulrike Seyboth ist die Malerei kein Ereignis des Lichtes, vielmehr ist es eine Notation, die sich am Horizont unserer Zeit bricht und daher schön und zerrissen gleichermaßen daherkommt. Starke Lokalfarben wie Violett, Blau oder Grün winden sich spontan und kontrolliert zugleich über zumeist weißen Binnenräumen und heben die Valeurs. In feinen Stufungen mischen sich breite, weiche Pinselzüge mit zeichnerischen Notationen und über allem liegt ein sensitives Erleben für die werdende und sich wandelnde Form, die sich verknüpft und bindet, Beziehungen eingeht und immer vor allem eines wach verfolgt: eine künstlerische Form, die in ihrer Auffassung dem natürlichen Wachstum nahe ist und sich lebendig und energiegeladen über die Leinwand spannt. Dichte, oft spiralige Ausprägungen bilden Räume, wachsen zusammen, ballen sich in Clustern, die nervös vernetzt im Raum schweben und einer Ordnung folgen, deren immanente Geometrie sich so versteckt, wie das in weiten Bereichen der Natur der Fall ist. Die Elemente stehen im Gleichgewicht – in einem das sich verändert und für Überraschungen gut ist. Einige der Notationen gleichen sprachlichen Versatzstücken und belegen einmal mehr die Nähe der Zeichen zur Zeichnung. Die Synthese von zupackender Malerei und feinteiliger Zeichnung führt zu einem pulsierenden, dichten Gewebe, das zwar leidenschaftlich in Zentren aufleuchtet, sich jedoch in räumlicher Verbundenheit dem Bildganzen fügt.

Viele der Arbeiten entstanden auf Reisen oder während verschiedener Studienaufenthalte und verweisen auf den nachhaltigen Einfluss der Landschaften, deren Angebote Ulrike Seyboth regelrecht aufsaugt und in freudiger Mannigfaltigkeit der eigenen Formensprache anverwandelt. Es geht nicht um Abbildung, sondern um ein Gefüge freier, oft divergierdender Zeichen, deren Strahlkraft unbenommen bleibt, sich jedoch organisch dem Bildganzen fügt.

Das Werk Ingo Fröhlichs ist das eines Zeichners. Er porträtiert weder Menschen noch Städte, sondern er untersucht die Natur, fragt nach ihrer Wirklichkeit und sucht nach Formen, die das Sichtbare verallgemeinern. In seiner Eigenart ist er konsequent und folgt Strich um Strich einem Werk, das aus der Wahrnehmung der Natur lebt, sich jedoch in der künstlerischen Umsetzung auf eigene Formen verlässt. Auf diese Weise wird geschaute Natur von einer Schöpfung ersetzt, die in der Regel eine inspirierte und zugleich eigentümlich konkrete Erfindung ist. Einige dieser Arbeiten zeigen Pflanzen in großen Formaten, die, exakt wie Porträts, die Wahrnehmung abbilden, aber eben doch erfunden sind. Es spricht für den feinen Humor des Künstlers, der nicht nur die reale Welt, sondern auch die von ihm geschaffene als eine von vielen Möglichkeiten begreift, die uns das Leben in Fülle anbietet. Die Exaktheit der Zeichnung, die fast enzyklopädische Reihung in Folgen schärft die Genauigkeit, die sich durch die konsequente Beschränkung auf den Bleistift noch steigert und genau dadurch die Möglichkeiten des Bildes erschöpft. Vieles von dem, was Ingo Fröhlich zeichnet, laviert in diesem Grenzbereich des bildnerisch Möglichen und verweist auf die Grenzen der Erkenntnis. Die Arbeiten zielen auf das Essenzielle, auf das Wesen, die Struktur der Dinge, die Ingo Fröhlich immer monochrom erfasst und in einer neuen, eigenen Verarbeitung auf großen Büttenpapieren darstellt.

Vor allem dann, wenn Ingo Fröhlich auf Wände zeichnet, sind die Arbeiten deutlich abstrakter, reine Schöpfung, ornamental aber beweglich. Diese Beweglichkeit ist vielen Arbeiten eigen. Sie ist zudem eine Eigenheit des Natürlichen, die jedoch auch ohne gegenständliche Anlehnung auskommt und als Analyse oder Geheimnis betrachtet werden kann. Möglicherweise hat Ingo Fröhlich gerade hier das, was er der Natur abschaut, auf die Spitze getrieben, indem er es von seiner Gegenständlichkeit befreit und als eine Ahnung des Zeichenlosen in eine konkrete Anschauung zwingt. Das, was dabei entsteht, ist eine Paradoxie, denn die Bilder, die sich einstellen, verlieren sich und überlassen neuen ihren Platz. Vielleicht liegt aber auch gerade darin eine versteckte Bosheit der Natur, sich exakter Betrachtung zu entziehen und vermeintliche Gewissheiten ins Leere laufen zu lassen. Auch bei vielen kleineren Arbeiten, etwa den zahlreichen kleinteiligen Zeichnungen der Installation „strichundumgebung” umkreist Ingo Fröhlich das Thema der Sichtbarkeit und ersetzt Abbilder durch bildnerische Erfindungen, die, nicht zuletzt durch ihre Fülle, einem privaten Mikrokosmos gleichen. Dabei wird sichtbare Natur zwar berührt, aber immer wieder durch imaginative Formen ersetzt. Poesie und Analyse finden gerade hier zu besonders schönen Mischformen, offenbart doch diese Arbeit einige der Grundprinzipien, die sich aus der Fülle der bildnerischen Darstellungen im Zettelformat erschließt. Zettelkästen helfen nicht nur dem Autor, sondern befördern auch das Verständnis der größeren, ausgearbeiteten Werke. Gerade in dieser skeptizistischen Grundhaltung, die der bindenden Anerkennung des Gegebenen entflieht, liegt ein besonderer Reiz der Arbeiten, der weit über das rein Formale hinausgeht. Eine künstlerische Intuition erklärt sich nicht als Fußnote gegenständlicher Erkennbarkeit, sie bleibt ein Angebot, ein offenes, vieldeutiges und einladendes allemal. Essenziell in seiner Wachheit für werdende und sich wandelnde Formen ist Ingo Fröhlich einigen Prinzipien der Natur nahe. Gerade die Betonung des Momentes, die Aufhebung von Verbindlichkeiten, steigert die sensible Anmut dieser Blätter.

Die Werke von Ulrike Seyboth und Ingo Fröhlich unterscheiden sich zwar deutlich, sind jedoch durch viele der beschriebenen Eigenarten enger miteinander verzahnt, als man dies im ersten Moment vermutet. Auch wenn die Arbeiten in getrennten Ateliers entstehen, so fließen doch die Ideen beider in die Konzeption der Ausstellungen ein, die dadurch zu einem inspirierten und inspirierenden Wechselspiel werden und die Arbeiten beider befördern. Gerade dann, wenn zwei Individualisten sich auf das Werk des jeweils Anderen einlassen, liegen Spannungen und Erfüllungen oft dicht beieinander, wobei ein Sich-Erfüllen aus der Andersartigkeit sicher dauerhaften Gewinn verspricht.

Erik Stephan

Frizzi Krella, Ulrike Seyboth und Ingo Fröhlich | Atelier vagabond

Katalogtext in »Je dessine le temps, tu peins l’instant«, Ein Gespräch zwischen Frizzi Krella, Ulrike Seyboth und Ingo Fröhlich, Distanz Verlag | 2021

»Es ist wirklich eine Schande. Das Sumpfland zu Wüste geworden. Die Wüste verheert. Und was mit den Tieren passiert ist. Und den Menschen und so. Aber es gibt eine Reihe anderer Aspekte zu berücksichtigen – politische, wirtschaftliche, wissenschaftliche –, die du nicht verstehen würdest. Du bist eine Vagabundin. Eine Künstlerin.«
»Stimmt. Ungebunden. Frei wie ein Vogel.« …
»Wie ich sehe, hattest Du schon viel mit Künstlern zu tun.«
»Tut mir leid, wenn ich dich beleidigt habe.«
»Herr, o Herr, gib mir Kraft! Was für Narren sind diese –«
»Zeter nicht so herum. Ich war das schließlich nicht. Nicht ich habe die Wüste zugrunde gerichtet. Die Tiere umgebracht. Die Rekruten abgeschlachtet. Ich habe weder die Bibliotheken abgefackelt noch das Museum mit der Antikensammlung geplündert.« (1 Susan Sontag, 1986)

Frizzi Krella: Ich zeichne die Zeit, du malst den Moment (Je dessine le temps, tu peins l’instant) – heißt Euer Titel, unter dem Ihr gemeinsam arbeitet und ausstellt. Seit zehn Jahren seid ihr zudem als Atelier vagabond auf Reisen. Was bedeutet für euch Atelier vagabond?
Ulrike Seyboth: Atelier vagabond ist mehr als ein ästhetischer Kunst(Be)griff, um unsere gemeinsamen Studienreisen zu kontextualisieren. Es geht um das Unterwegssein an sich. Darum, was ein Vagabunden-Atelier in unserem Inneren auslöst, ohne dabei eine spätbürgerliche Romantik des Künstlerateliers reanimieren zu wollen. Da ist einerseits die Tatsache, dass Ingo und ich mehr und mehr auf der Suche nach jener Freiheit sind, die es hier in Berlin in den 1990er Jahren einmal gab, aber die für uns in dieser Stadt immer weniger erlebbar wird. Andererseits, und auf einer tieferen Ebene, geht es darum, über unsere Suche mit Hilfe der Kunst das Risiko einzugehen, bestenfalls zu uns selbst zu finden. Die große Möglichkeit im künstlerischen Arbeiten liegt ja darin, dass sich die eigene Handlung direkt über das Werk reflektiert und man als Künstler über das Wechselspiel des Agierens und Reflektierens den Arbeitsprozess und damit das Werden eines Werkes unmittelbar bestimmen und lenken kann. Wenn ich diesen Ansatz erweitere und auf mich beziehe und davon ausgehe, dass ich ein formbares Wesen bin, kann sich dieser Prozess der Bewusstwerdung ausdehnen und mir auf der Suche nach meinem wahren, inneren Kern helfen. Schön, dass ich in Ingo einen Menschen finden konnte, mit dem ich diese Sehnsucht so tief teilen kann.
Ingo Fröhlich: Vagabundieren bedeutet auch, die Sicherheitszone und eingetretene Wege zu verlassen. Um loszugehen braucht es den Mut, kein konkretes Ziel zu haben. Kraft und Willen, um Unbekanntes im Außen wie auch im Inneren zu erforschen. Es gibt eine Verbindung zwischen dem Ungewissen auf Reisen und dem Unbekannten in der künstlerischen Arbeit. Diese Neugier in der Kunst und Freude am Reisen ist tatsächlich ein Motor unseres Werkes und Beisammenseins.
US Beim Atelier vagabond geht es nicht nur um die stringente Suche nach »etwas« ganz Speziellem, Definiertem. Eher darum, mit Beginnerenergie die Spuren einer bisher unbenannten Sehnsucht in sich selbst zu entdecken, diese freizulegen und sich den gesellschaftlichen Bewertungen und Erwartungen von Zeit zu Zeit zu entwinden. Für mich stellt das Image des vagabonds nicht nur die auf ihn projizierte Aussteigersehnsucht oder Abenteuerlust dar, sondern auch das Ortlose, Suchende, Verstoßende, Wilde, Dreckige, Unberechenbare, Heimatlose, Fragile und Einsame. Sind wir nicht alle irgendwie Vagabunden?
Künstler sollten immer vagabonds sein! Grenzgänger, Sehende, eine Medea, ein Dionysos. Forscherin, Beobachter, Querulantin, Hungriger, Verzweifelte, die glücklichsten Menschen der Welt. Alles liegt darin. Auch ziellos sein zu dürfen, wie es die Kunst an sich ist. Dass man Künstlern, ähnlich wie den Vagabunden, oftmals negativ konnotiert Müßiggang, Nonkonformismus oder Kompliziertheit unterstellt, ist bedauernswert. Denn entstehen nicht gerade im Müßiggang und in der Kontemplation oftmals die besten Ideen? Ich meine im wahrsten Sinne der Worte idéa und inspirare. Treffen sich nicht an einer ganz bestimmten Schnittstelle Künstler und Penner? Als Schamanen zwischen Wirklichkeit und Traum. Die Aufgabe der Kunst ist es doch, über Schmerz und Freude zugleich das Transzendente bewusst, sichtbar, begreifbar zu machen.
FK: Ihr entdeckt die Welt gemeinsam und arbeitet unter fremden Himmeln in unterschiedlichen Gegenden Europas. Wo und wie fing Eurer gemeinsames Reisen an?
US Von 1999 bis 2009 habe ich in Paris, Montreuil und in der Bourgogne gelebt. Diese Zeit war für mich und meine Arbeit deshalb wegweisend, da ich fernab von Deutschland in Ruhe mein Werk, meine künstlerische Handschrift entwickeln konnte. Ohne meinen Bezug zu Frankreich wäre ich nicht die Malerin geworden, die ich heute bin.
Zu Beginn wollte ich Ingo möglichst viel von meiner Wahlheimat zeigen, ihm mein französisches Leben näherbringen. Denn natürlich geht es beim Atelier vagabond auch um das Nachspüren eines anderen Lichtes, der Farben, der Landschaften, um die Entdeckung neuer Formen und Linien, um fremde Gerüche und Erlebnisse. Um die Illusion, den ganzen ermüdenden gesellschaftlichen Mechanismen von Zeit zu Zeit zu entkommen.
IF Als Ulrike und ich 2011 zusammenfanden, fragte sie mich, ob ich mit ihr ein paar Wochen nach Frankreich gehen würde. Ich war ziemlich mutig und habe sofort zugesagt. So sind wir gleich im ersten Sommer in die Auvergne gereist. In ein wunderschönes Haus mit Atelier auf einem Berg, mitten im Wald. Im Laufe der Zeit waren wir vier oder fünf Mal gemeinsam dort und lebten da ganz zurückgezogen und einfach, mit dem ausschließlichen Fokus auf unsere Arbeit. Da La Sagneyre auf über tausend Meter liegt, hatten wir oft mit rauen Wettern zu tun, Gewittern, Regen oder Dürre. Einmal ist tagelang eine durstige Pferdeherde um das Haus gezogen. An den von unserem Freund angelegten Teichen fanden sie Wasser, wurden zahmer und knabberten am Ende an den Scheibenwischern unseres Autos.
US Zum Reisen gehören Begegnungen, auch mit Tieren. Vor zwei Jahren sind uns dort zwei Hunde zugelaufen. Die Hündin blieb bei uns – Cosette. Sie legte sich im Atelier unter unsere Arbeitstische oder am liebsten neben die Bilder – herzzerreißend. Wir konnten sie nicht mit nach Berlin nehmen. Ich trauere ihr noch heute nach.
FK: Bevor wir uns weiter auf die Spurensuche begeben vorweg noch eine Frage: Welche Rolle spielt in Deinem Leben Ulrike die Malerei, und bei Dir Ingo die Zeichnung?
US Die Möglichkeit Künstlerin zu werden hat sich für mich erst eröffnet, als ich nach dem Fall der Mauer nach Berlin kam. Das war eine große, intuitive Entscheidung und ich glaube, dass mich die Malerei in gewisser Weise gerettet hat.
IF Zeichnen erklärt mir die Welt. Für mich ist das Spannende, den Weg zu sehen, den künstlerischen Prozess der Entstehung. Die Transformationen, die das Werk gleichsam mit dem Künstler durchläuft und damit auch den Künstler an einen anderen inneren Ort bringt.
FK: Was ist das Besondere des Atelier vagabond für Euch?
US Die Freiheit zu sagen: »Ich gehe«, ist manchmal ein kleiner Triumph. Eine Reisende war ich schon immer und liebe das Mir-neue-Welten-Schaffen in der Fremde. Reisen ist vielleicht wie ein Theaterstück, das man gespielt hat, ephemer, und trotzdem trägt man es in sich.
IF Ich bin da einfach langsamer. Mir geht es nach dem Losfahren so, dass ich anfange nachzudenken, was ich wohl vergessen habe. Ich vergesse immer irgendetwas. Das Loskommen fällt mir eher schwer. Beim Ankommen geht es dann erst einmal darum, mich einzurichten, ein Atelier zu installieren. Einen Rückzugsort zu schaffen, um mich fernab der ganzen Berliner Verpflichtungen ganz auf das künstlerische Arbeiten zu konzentrieren.
FK: Wäre es einfacher, im Atelier zu bleiben, wo Du alles für Dich durchkonstruiert hast?
IF Nein, ich habe den Eindruck, dass das Losgehen mir auch die Freiheit schenkt, etwas Neues anzufangen. Ich genieße es zu improvisieren. Man findet immer irgendwo etwas. Vor allem, dass das Alltägliche vorher erledigt wurde und der Fokus nur noch auf das Zeichnen gelenkt ist. Dass es wieder in den Mittelpunkt rücken darf.
US Für mich wäre es ein großer Genuss, in einem japanischen Haus zu leben, in einem espace vide (Peter Brook), einem leeren Raum, der immer wieder neu erschaffen werden kann und einlädt, frisch zu denken, zu spüren und sich auf Unbekanntes einzulassen. Aus meinem Atelier in Berlin flüchte ich manchmal, weil es schon so voll ist.
IF Das Auf-Reisen-Gehen wirft einen immer wieder auf sich selbst zurück, auf das Hier und Jetzt. Anders als zu Hause, wo das Atelier über einen langen Zeitraum wächst und immer perfekter wird.
FK: Wird die Arbeit auch perfekter?
IF Für mich geht es beim Zeichnen nicht um Perfektion. Es geht mir um den Arbeitsprozess, um Schritte, ein Wandern, eine Weiterentwicklung. Die Ergebnisse – ob im Atelier oder auf Reisen – sind ähnlich. Das Besondere am Unterwegssein sind die vielen Eindrücke, die neu und fremd sind. Das schärft die Wahrnehmung. Man ist in einer unbekannten Umgebung, instinktiv wacher, aufmerksamer. Bestenfalls ist Linksverkehr, wenn man in England ist.
FK: Eigentlich wart Ihr schon zu allen Jahreszeiten unterwegs, ob im Winter in Finnland oder in Plüschow, im Herbst in der Schweiz oder im Sommer in Italien und natürlich Frankreich.
US Für unsere Reisen gibt es immer wieder auch »offizielle« Anlässe, wie Stipendien. Nach Finnland sind wir auf Vorschlag des Goethe-Institutes und der Helsinki International Art Projects gekommen. Das war ein großes Sich-auf–die Reise-Begeben ganz am Anfang unserer Beziehung.
IF Für dieses zweite Atelier vagabond wurden wir 2012 von Januar bis März auf die kleine, vor Helsinki liegende Insel Suomenlinna eingeladen. Die Fahrt ging mit unserem Bus über Stockholm und dann mit der Fähre weiter. Es war eine beseelte und spannende Zeit. Wir hatten tatsächlich alles dabei, inklusive des Weins. Als wir ankamen, begann es zu schneien und hörte nicht wieder auf. Ich habe unsere Batterie aus dem Auto geschraubt und es bis März einschneien lassen und erst vor der Abfahrt wieder freigeschippt.
US Nie hätte ich gedacht, dass es in der dunklen Zeit im Norden ein so phantastisches Licht geben kann, und zum ersten Mal erfuhr ich, was Pastelltöne sind. Ein Farbspektrum in dieser Intensität und die Finesse von Licht kannte ich bis dahin nicht. Die Nächte sind sehr lang, das Licht ist ein besonderes, ganz weiß. Die Stille und unser Sich-einschneien-Lassen waren für mich magische Momente.
IF Durch die eisige Kälte froren die Schären mit der Zeit zu und bildeten nichtendenwollende weiße Flächen, die im Mondlicht leuchteten. Eine unglaublich schöne Helligkeit. Von Zeit zu Zeit setzten wir mit einer kleinen Fähre, für die ein Eisbrecher zuvor eine Schneise freibrechen mußte, nach Helsinki über. Das hat mich an meine Kindheit auf der Insel Norderney erinnert. Auch da war es nicht immer so einfach, im Winter aufs Festland zu kommen. Manchmal waren wir, wenn der Wind ungünstig stand und dauerhaft wenig Wasser im Wattenmeer war, wochenlang vom Rest des Landes abgeschnitten. Ich liebe es sehr, auf einer Insel zu sein.
FK: Wie lange ward Ihr da?
IF Sechs Wochen. Im Winter ist das eine kleine Ewigkeit.
US Ich mochte es, jeden Tag die gleichen Wege durch den Schnee bis zur Festungsmauer zu stapfen und dann auf die verschneite Ostsee zu schauen, die so glänzte wie ein Stern.
Weißt Du noch, Ingo, als wir damals 2014 mitten im Winter auf Schloss Plüschow in Mecklenburg waren? Bei minus 20 Grad fiel die Heizung für drei Tage aus.
IF Wir hatten unser Autobett ins etwas isoliertere Atelier gestellt und auch tagsüber unter den Federbetten gethront und Hof gehalten wie Yoko Ono und John Lennon. Noch heute amüsiert uns, dass sich der Leiter des Hauses zu uns aufs Bett setzte, um mit uns eine Ausstellung zu besprechen und wie es bei diesen Temperaturen mit dem Arbeitsaufenthalt weiter gehen sollte.
Mit unserem VW-Bus sind wir auch 2015 nach Island übergesetzt. Ich hatte von 2003 bis 2004 ein Jahr auf Island gelebt und bin bis heute mit dem Land und der Künstlerszene vor Ort sehr verbunden. Nun wollte ich Ulrike meine Sehnsuchtsorte und Traum-Landschaft zeigen. Zuerst sind wir kreuz und quer durch das von Wundern volle Land gereist bis hoch in die Westfjords. Ich hatte über Bekannte dort ein Haus in Flatery organisiert, in dem es uns allerdings unmöglich war, zu arbeiten.
US Bis zum nächsten Tag sprach sich herum, dass zwei Künstler aus Berlin gestrandet seien und für vier Wochen ein Atelier suchen. Unglaublich, am Nachmittag wurden uns die Schlüssel zum Félagsheimili, einem kommunalen Veranstaltungsort, übergeben. Ein schöner Saal, geheizt und mit großen Fenstern.
IF Das perfekte Atelier. Als hätten wir ein Loft im New York der 1960er/1970er Jahre bezogen. Auf die Bühne kam, neben den Billardtisch, das bewährte Bett aus dem Auto. Wir haben dann sehr konzentriert gearbeitet und am Ende hat jeder ein Werk im Rathaus von Ísafjörður abgegeben. Wie großzügig und unbürokratisch das gehandhabt wurde!
US Es gibt in Island ein sehr klares, hartes Licht, welches für Fotografen und Zeichner sicher phantastisch ist – mich hat es malerisch weniger inspiriert. Wie ich auch nicht so recht mit den Mittsommernächten klargekommen bin. Die Sternenlosigkeit empfand ich als einen Kulturverlust. Ich bekam Sehnsucht nach warmen Sommernächten und merkte, wie sehr ich die culture latine vermisste, das sur-la-place einen Wein zu trinken, eine kleine Kirche zu entdecken. Das ist etwas anderes, als die großartigen Naturspektakel, die man natürlich auf Island allenthalben findet.
IF Ich spüre auf Island eine unglaubliche Erdung. Eine Insel hat für mich etwas Behütendes. Man kann darauf nicht verlorengehen. Im Zweifelsfall läuft man einmal am Strand um sie herum und kommt am Ausgangspunkt wieder an. Ich wollte damals in den hohen Norden, um die Zeit zu studieren. Deswegen war ich ein ganzes Jahr auf Island.
FK: Was meinst du denn mit Zeit?
IF Die 24 Stunden Helligkeit und dann die Dunkelheit im Winter, wenn die Sonne kaum über den Horizont kommt. Aber im Sommer ist es ein Erlebnis, wenn sie ihn nur kurz berührt, um gleich wieder aufzusteigen. (Zu Ulrike) Das nächste Mal fahren wir im Winter hin. Die Nordlichter, diese Himmelswunder, werden Dich begeistern.
FK: Wie ist das Losfahren für Euch?
IF: Wenn wir losfahren, nehmen wir ja nur leere Blätter mit. Ideen sind im Handgepäck und wir kommen mit vollen Blättern wieder. Ich bin meistens schneller zufrieden mit einer Situation als Ulrike. Du bist eigentlich vor Ort selten sofort einverstanden …
US (lacht) Ich versuche mich eben für eine Situation einzusetzen, die für uns künstlerisches Arbeiten auch möglich macht.
FK: Nehmt Ihr Eure Materialien mit, die Ihr zum Arbeiten benötigt?
IF Ja, fast ausschließlich. Es ist ein unglaublicher Missstand, wenn ich vor Ort plötzlich etwas suchen muss.
US Ich habe in meinem Atelier drei Kisten mit Farben, Pinseln und Material fertig gepackt und könnte jederzeit wieder aufbrechen.
FK: Das finde ich nicht uninteressant: sich eine improvisiert perfekte Situation zu schaffen. Wie beginnt Ihr Euer Atelier vagbond vor Ort?
US Zum Leben braucht es gar nicht so viele Dinge. Wenn etwas fehlt, gehen wir auf den Flohmarkt. Gerade in Frankreich finde ich dort die schönsten Sachen.
IF Eng wird’s auf dem Rückweg, wenn wir neben unseren Arbeiten Wein aus der Gegend und unsere Schätze der Vide-greniersmitbringen.
FK: Welche Reise ist Euch besonders in Erinnerung geblieben?
US Als wir ins Salento fuhren, in die Nähe von Lecce – das war tatsächlich ein Vagabundenatelier. Wir haben uns mit einem Segel ein Atelier im Freien eingerichtet.
IF Wir bekamen im Austausch zu unserer Berliner Wohnung eine Marquez-Villa der 1930er Jahre mit einem fantastischen maurischen Anwesen einschließlich einem verwilderten Garten mit Orangenhainen, Feigenbäumen, Öl- und Mandelbäumen. Süditalienischer Adel im Untergang. Ich ging beglückt in der Rolle des Gärtners auf.
US Meine Serie IONIAN SEA entstand dort und Ingo bezeichnete riesige Blätter mit Blüten und Palmenwedeln.
FK: Welchen Unterschied hat für Euch das Arbeiten im Atelier gegenüber dem auf Reisen in Eurem gemeinsamen Atelier vagabond?
IF Eine große Qualität des Atelier vagabond ist, dass wir gemeinsam im Atelier arbeiten, dass wir zum anderen sagen können: Lass das mal so, die Arbeit ist gut. Ein kleiner Hinweis von außen auf einen spannenden, neuen Aspekt kann wertvoll sein. Der unmittelbare Austausch und die Aufmerksamkeit sind etwas sehr Besonderes.
US Es ist das Nebeneinander-Sein, ein Nebeneinander-Kunst-Leben. Wir begleiten uns im Schaffen manchmal nur still, denn es gibt auch die Intimität des Arbeitsprozesses.
FK: Evozieren bestimmte Orte bestimmte Farben, Striche, Linien oder Rhythmen?
IF In verschiedenen Landschaften entdecke ich unterschiedliche Striche, eine andere Natur, ein anderes Klima und Seinsempfinden. Das wird dann auch in der Arbeit sichtbar. Der Sommer ist gemalt, der Winter ist gezeichnet.
Ein Ort und meine Wahrnehmung sind verbunden. Und Zeichnen ist Wahrnehmen. Mich erstaunt immer wieder, dass ich die Situation, in der eine Arbeit entsteht, so intensiv spüren kann. Diese Präsenz schreibt sich in meine Zeichnungen ein. Aber das ist nicht unbedingt nur orts-, sondern auch zeitgebunden. Die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Selbst wenn ich den Ort wieder besuchte, ist es ein neuer Ort für mich.
FK: Du arbeitest ja auch mit Abbreviaturen, Kürzeln und Formen, die Du erfunden hast. Gehen diese auf bestimmt Orte zurück?
IF Ich arbeite nicht mit Kürzeln! Ich spüre Linien und Strichen mit dem Bleistift nach. Man kann es sich vielleicht vorstellen wie einen Baum, der wächst und sich immer weiter verzweigt. In jede Richtung wird die Differenzierung immer feiner. Jedes Mal, wenn ich eine Tür öffne, sehe ich neue Türen und kann mir wieder eine aussuchen. Eine Art Wachstumsprinzip. Dadurch kommt die Unendlichkeit der zeichnerischen Möglichkeiten zustande. Wenn ich hingegen versuche, eine Situation abzuzeichnen, werde ich mir ziemlich schnell darüber klar, wie unmöglich das eigentlich ist. Über das Schauen komme ich in so viel Detailreichtum, dass dieser für mich nicht mehr fassbar ist, und reduziere mich automatisch auf das Wesentliche. Das ist so meine Werkzeugkiste, die sich immer weiter füllt und wächst.
FK: Welche Rolle spielen Leere und Fülle in Euren Arbeiten?
IF Tatsächlich ist es ein »um die Leere herumarbeiten«. Oft entsteht die Spannung aus der Dynamik des Striches und den freien Flächen. Das Nichtgezeichnete macht die Zeichnung aus. Aus dem Positiv-Negativ-Moment entsteht Tiefe. Ich stolpere häufig darüber, dass es mir misslingt, die Leere auf einem Blatt zu halten. Es ist beeindruckend, dass ein fast leerer Bereich mit zwei drei Strichen schon wieder zu voll sein kann.
US Die Spannung zwischen Leere und Fülle beschäftigt mich auch. Wann beginnt sie zu kippen? Gelingt es mir, eine größtmögliche Leere auf dem Bild zu erhalten? Ein gefundenes équilibre kann durch die Setzung eines neuen Farbflecks oder eines Zeichens ge- oder zerstört werden. Oder es kann eine neue malerische Richtung vorgeben. Bei den Collagen ist es anders. Da reizt mich eher das Spiel zwischen Raum und Form.
IF Es gibt eine kunsthistorische Anbindung bis hin zur Höhlenmalerei. Auch die Menschen im Paläolithikum hatten Fackeln, ihre Hände und Kreidestücke und zogen aus der Beobachtung heraus eine Linie mit Verdichtungen, Leeräumen, Öffnungen und Brüchen.
FK: Entscheidet Ihr Euch bewusst für eine Verdichtung oder Öffnung des Formats in Euren Zeichnungen und Malereien?
IF Zu Beginn lege ich gern die Parameter einer Zeichnung fest. Ist die Systematik einer Strichführung entschieden, kann ich eine Linie setzten und ihr durch das gesamte Blatt konsequent folgen. Aber es gibt immer auch diesen Moment, in dem ich mich frage: Gehört es noch dazu oder treffe ich gerade eine neue Entscheidung und verlasse dieses System und führe es anders weiter.
US Ich kann mit einem breiten Pinsel und weißer Farbe die Leerstellen auf einem Bild, das mir zu voll geworden ist, zurückholen, was auch ein Prinzip im Erarbeiten einer lebendigen Oberfläche ist. In diesem Übermalen und Aufsetzen entsteht Struktur und Farbigkeit. Vielleicht ist das auch der Unterscheid zwischen Malerei und Zeichnung.
FK: Beim Betrachten Deiner Bilder Ulrike habe ich das Gefühl, dass Du zeichnend, ähnlich einer écriture automatique, mit Farben malst.Man könnte meinen, Deine Arbeiten sind Ausschnitte einer unendlichen Bewegung.
US Ja, das ist so. Obwohl ich viel gezeichnet habe, empfinde ich das Malen für mich körperlich intensiver, sinnlicher. Spannend wäre, welche Zeichen sich in einem anderen Schriftraum aus dem kulturgeprägten Unbewussten schälen würden. Meine malerischen écritures bestehen auch aus Elementarformen, die man in allen Epochen und Kulturen wiederfindet, wie Linie, Dreieck, Kreis, Oval, Schale und viele mehr.
FK: Wann ist ein Bild für Dich gelungen oder fertig?
US Wenn sich ein équilibre einstellt, eine Balance zwischen Farbe und Leere.
FK: Trennst Du Dich leicht von Bildern die Dir misslungen sind?
US Ja, aber manchmal dauert es lange. In meinen Collagen kann ich verworfene Arbeiten als pièces perdus wieder aufnehmen.
FK: Wie ist das bei Dir, Ingo?
IF (lacht) Ich hab einen Ofen.
FK: Gibt es Fehler?
IF Wenn ich ein System, eine angelegte Ordnung breche, fällt es auf, und es ist schon schmerzhaft, wenn ich dann mehrere Tage Arbeit ins Feuer schiebe.
FK: Wie sieht bei Euch das Experimentieren aus?
IF Um sich der Kunst zu nähern, ist für mich das Spielerische zwingend notwendig. Ich bin ein sehr verspielter Mensch. Es gibt diese Faszination, dieses Glücksmoment, wenn’s stimmig ist, oder wenn etwas entsteht, womit ich nicht gerechnet habe.
US Dafür muss man offen sein, um es sehen und annehmen zu können. Ein Fehler kann auch eine Überraschung sein. Ein Zufall, der erstaunt. Fehler sind wichtig, sie sind wie eine Krise. Wenn man hindurchgeht, kann vielleicht wieder etwa Neues entstehen.
FK: Zeigt Ihr Eure Arbeiten gern, wenn sie noch im Entstehen sind?
IF Nein. Aber das Atelier ist ja auch ein Begegnungsort für Interessierte, Freunde oder fremde Menschen und mit seiner schöpferischen Fülle ein unglaublich schöner Magnet. Eine Ausstellung am Ende, ein Offenes Atelier, ein Apéro …. liegen uns sehr am Herzen und ziehen sich wie ein roter Faden durch das Atelier vagabond.
US lm Umkreis unserer Aufenthaltsorte lernen wir oft ganz selbstverständlich die dortige Kunst- und Kulturszene kennen, wie zum Beispiel in Octon, einem kleinen Dorf im Languedoc, das uns nach einer Einladung in das kommunale Village des Arts im Jahr 2015 besonders ans Herz gewachsen ist.
IF Das Schöne am Atelier vagabond ist, dass die Besucherinnen und Besucher nur das gerade Entstandene sehen –, was eine besondere Intensität hat. Dass das Entstehen von Kunst diese Anziehung hat, ist einfach schön, verbindet und macht alle glücklich. Wir brechen nicht nur unseren Alltag auf, sondern auch den Alltag jener, die uns besuchen.
FK: Ingo, macht es für Dich einen Unterschied, welche Zeichnungen im Atelier oder im Atelier vagabond entstanden sind?
IF Auch auf Reisen ist es ein Atelier. Für mich ist das Faszinierende am Zeichnen, dass meine Momentwahrnehmung dabei so intensiv ist. Ich banne meine Erinnerung auf das Papier.
US Du kannst dich direkt an Situationen erinnern? Dieses tagebuchartige Erinnern habe ich nicht.
IF Während unserer Fahrten zeichne ich oft, und es passiert, dass sich diese Fahrt, diese Landschaft oder der Tag, die Nacht noch einmal extra einprägen. Man kann von der Aura einer Fahrt sprechen.
FK: Ich denke dabei an die mehr als einhundert Bleistiftzeichnungen vom Fluss Reuss in Göschenen, die Du mir im vergangenen Herbst gezeigt hast. Die haben tatsächlich etwas Tagebuchartiges. Das Fortscheiben des Flusses zu unterschiedlichen Tageszeiten über eine gewisse Zeitdauer hinweg, dass die Tage alle so ein eigenes Erscheinungsbild haben.
IF Eine Weisheit sagt, dass man nicht zweimal in den selben Fluss steigen kann. Vier Wochen lang kam ich jeden zweiten, dritten Tag an den Fluss und habe fünf, zehn oder fünfzehn Blätter gezeichnet und die Serie eines jeden Tages hat ihr eigenes Temperament.
US À propos Atelier vagabond: Im letzten Jahr erhielten wir ein Stipendium in der Schweiz. Die Bedingungen dort waren für uns schwer auszuhalten. Wir fanden uns in einem zugigen und am Abend schlecht beleuchteten Durchgangsatelier gegenüber einer Riesenbaustelle wieder. Acht, neun Stunden Dauerbeschallung durch Presslufthammer und ständige Sprengungen des Felsgesteins. Bei jeder Detonation fielen uns Stift und Pinsel aus der Hand, ein Arbeitsfluss, eine gedankliche Fokussierung oder ein Rückzug waren kaum möglich. Ruhe und Konzentration sind uns beiden wichtig und gerade mir bei der à la prima-Malerei essenziell.
IF Über diesem Aufenthalt lag ein dunkler Schatten. Das Tal und die hohen Berge ohne Abend- und Morgendämmerung entsprachen uns nicht. In der Schweiz wurde uns noch einmal bewusst, wie sehr wir die Ferne lieben, eine Weite, in die man schauen kann. Der Gotthard ruft uns nicht.
FK: Gibt es Orte, an die Ihr gern zurückkehren möchtet?
IF Wenn man resümiert, hatten wir 14 große gemeinsame Künstlerreisen. Eine reiche Zeit. Nun gibt es in der Corona-Pandemie und auf Grund der Erfahrung im letzten Jahr das tiefe Bedürfnis nach einem Ort, an den wir zurückkommen können. Unsere große Sehnsucht ist Octon am Lac du Salagou.
US Wir möchten Wohnen und Arbeiten zusammenlegen. In einem schönen alten Haus, mit großen Tischen, in dem man vom Atelier ins Haus und zurück gehen kann und sogleich wieder in der Kunst ist. Meine schönsten Momente sind es, wenn die Cigalles singen, die befreundeten Winzer eimerweise Tomaten bringen und ich diese während der großen Mittagshitze in großen Töpfen zu Sugo einkoche. Diese Sinnlichkeit finde ich fantastisch.
IF Am Abend kommen Gäste und sind neugierig, was entstanden ist. Das ist für mich Sich-Mitteilen. Darin liegt »mit« und »teilen«.
US Wer weiß, vielleicht ist es ja die große Herausforderung aller vagabonds, eines Tages anzukommen, und damit meine ich diesmal nicht nur »bei sich selbst«.

1 Aus: Susan Sontag, Der Blick aus der Arche oder Dialog zwischen einem Nachkommen Noahs und einem Vogel. In: Susan Sontag, Wie wir jetzt leben. München: Hanser, 2020, S. 75ff.

Dr. Heinz Stahlhut, Ulrike Seyboth und Ingo Fröhlich | Im Miteinander in Erscheinung treten

Ateliergespräch vom 28.Dezember 2012 und Katalogtext »Zur Zusammenarbeit von Ulrike Seyboth und Ingo Fröhlich«, in »Ich zeichne die Zeit, du malst den Moment«, Lukas Verlag | 2012

Dass sich eine Künstlerin und ein Künstler zusammentun und zeitweilig eine enge Ateliergemeinschaft bilden, ist auch in Zeiten von Künstlergruppen und der Delegation des Schaffensprozesses an Dritte immer noch etwas Besonderes. Das war allerdings nicht immer so. Vom Mittelalter bis ins 18. Jh. gehörte es in Europa zur gängigen Praxis, dass sich in einer Künstlerwerkstatt jeder Mitarbeiter auf ein bestimmtes Motiv oder Gattung spezialisierte und diese in eine Gemeinschaftsarbeit einbrachte. Doch durch das Aufkommen des Geniekultes im späten 17. Jh. geriet diese Vorgehensweise in Misskredit. In der neuzeitlichen Ästhetik galt das individuell geschaffene Werk als Produkt der westlichen Kunst, wohingegen die gemeinschaftliche Kunstproduktion mit archaischen, mittelalterlichen oder »primitiven« außereuropäischen Kulturen verbunden wurde. Zwischen der Hochkunst, die sich durch Qualitäten wie Einmaligkeit, Individualität und Originalität identifizierte, und der Zusammenarbeit im künstlerischen Bereich tat sich deshalb ein krasser Widerspruch auf.

Zu Beginn des 19. Jh. entstanden zunächst ansatzweise Formen des gemeinsamen künstlerischen Schaffens, so bei den 1808 als „St. Lukas-Bruderschaft“ gegründeten Nazarenern und vergleichbaren Künstlergemeinschaften. Diese Gruppen hatten vor allem die Funktion, den einzelnen Künstler gegenüber der ihm indifferenten oder ihn ausgrenzenden Gesellschaft zu stärken und eine künstlerische Richtung durchzusetzen.

Diese Ideen wurden von den Avantgardekünstlern des frühen 20. Jh., wie den Mitgliedern des Blauen Reiters und den Dadaisten aufgenommen und das Konzept der künstlerischen Originalität von Vertretern des Dada, Surrealismus, der Pop-Art und Postmoderne in vielfacher Weise angegriffen.

Die Gründe solcher Kollaborationen sind vielfältig: So sieht Zdenek Felix in temporärer Zusammenarbeit geradezu eine Voraussetzung für künstlerisches Vorankommen und nennt unter anderem die gedankliche und stilistische Interaktion zwischen Pablo Picasso und Georges Braque, Wassily Kandinsky und Gabriele Münter, Sonia und Robert Delaunay, Le Corbusier und Amédée Ozenfant zu Beginn des 20. Jh. Gemäss Felix funktioniert eine solche Kooperation als kontinuierlicher Austausch von Ideen und Erfahrungen in einem produktiven Arbeitsprozess, in dessen Verlauf das Individuelle in ein anderes, neues Ich transformiert wird. Dazu führt er die „cadavares exquis“ der Surrealisten an, bei denen es laut Max Ernst um die „geistige Ansteckung“ ging. Eine Intensivierung der nur temporären Zusammenarbeit bewirkt daher die zeitlich längere oder gar lebenslange Kooperation, wie zum Beispiel bei Sophie Taeuber und Hans Arp.

Ein weiteres Motiv für die Gemeinschaftsarbeit ist der Wunsch zu überprüfen, wieweit die Gemeinsamkeiten in der künstlerischen Auffassung reichen. Nicht zufällig ist die Praxis der Kooperation gerade seit den späten 1960er und 1970er Jahren vermehrt geübt worden, erschien sie doch den Zeitgenossen selbst als Grenzüberschreitung des individuellen Produktionsrahmens und damit als eine adäquate Antwort auf den Wunsch nach Grenzerweiterung der Künste.

Im Gespräch haben Ulrike Seyboth und Ingo Fröhlich die Beweggründe für ihre Zusammenarbeit und ihre Eigenart deutlich gemacht: Ihre Medien Malerei und Zeichnung unterscheiden sich naturgemäss und dieser materielle Unterschied bewirkt eine jeweils andere Herangehensweise. Der pastosen, opulenten, auf starke sinnliche Präsenz abzielenden Malweise Ulrike Seyboths steht die nüchtern erscheinende, konzeptuelle Zeichnung Ingo Fröhlichs gegenüber, in der die Setzung von regelmässigen Strukturen vorherrscht.

Doch beiden gemeinsam ist ein profundes Interesse an der Gegenüberstellung von Leere und Fülle. Das weisse Blatt bzw. die weisse Leinwand als „Klangraum“ von Farbe und regelmässigen Strukturen ist für beide von entscheidender Bedeutung. Diese Verwandtschaft ermöglicht es offenbar, dass einer gegenüber dem anderen als „Korrektiv“ auftreten, zum Innehalten animieren und ermuntern kann – eine Auseinandersetzung, in der sich jeder über seine Eigenarten bewusst wird.

Dr. Heinz Stahlhut, Berlinsche Galerie

U.S. Wir haben uns gefreut, vom Bezirksamt Berlin-Pankow diese Förderung durch eine unabhängige Jury, zugesprochen bekommen zu haben. Eine wirkliche Anerkennung und Aufmerksamkeit für unser künstlerisches Arbeiten.

H.S. Wie habt Ihr Euch eigentlich kennen gelernt?

I.F. An der Kunsthochschule Berlin Weißensee 1992. Im selben Semester. Ulrike studierte Malerei, ich Bildhauerei.

U.S. Wir hatten uns dann aus den Augen verloren und sind uns 2011 zufällig bei einer gemeinsamen Ausstellung im Georg Kolbe Museum erneut begegnet

I.F. … und verabredeten uns auf einen Atelierbesuch. Als ich in Ulrikes Atelier kam, war ich sehr angetan von der Lebendigkeit ihrer Bilder. Ich spürte einen ähnlichen Anspruch an künstlerisches Arbeiten. Der Arbeitsprozess mit seinen Mitteln und Möglichkeiten steht mehr im Vordergrund als die Idee. Das fand ich bei Ulrike wieder und war von Anfang an ganz gerührt. Und bald darauf entstand der Gedanke, zusammen auszustellen.

U.S. Zuerst wollten wir gegenseitig Arbeiten tauschen! Ich war ja schon immer fasziniert von Ingos Zeichnungen und Skulpturen; später dann auch von seiner Person.

I.F. Im Sommer 2011 ergab sich in Frankreich gleich ein erster gemeinsamer Atelieraufenthalt, im Januar/Februar 2012 waren wir mit einem Stipendium vom Goethe-Institut in Helsinki, auf Suomenlinna und diesen Sommer erneut zusammen in Frankreich, in der Auvergne. Ich fand es spannend, diese intime Atelieratmosphäre zu teilen. An der Hochschule fiel es mir schwer, in einem gemeinsamen Atelier zu arbeiten, mit Ulrike hingegen entstand eine schöne, unaufgeregte, arbeitsame Ruhe. In Frankreich nutzten wir einen großen Raum, auf Suomenlinna war es sehr beengt und es war Winter. Die Arbeiten, die im Katalog abgebildet werden, sind größtenteils in diesen Situationen entstanden. Das ist vielleicht kein direktes Aufeinander-Eingehen, eher ein Dialog.

H.S. Beschreibt bitte Eure Vorstellung von künstlerischer Arbeit!

I.F. Ich habe vielfach Arbeiten vor mir, die wirklich im Fluss sind, in einem meditativen Prozess. Wenn ich im Rhythmus bin, dann kostet mich das keine Kraft. Es entfällt die Anstrengung, immer wieder Entscheidungen zu treffen. Zum Beispiel bei den Stempelarbeiten oder der Serie „isländische landschaften“. Es gibt den Anspruch, fertig werden zu wollen. Mein Antrieb ist, etwas zu Schaffen, Erschaffen zu wollen, einen Prozess anzutreiben. Monotones Handeln als Prinzip, Mensch als Maschine vielleicht. Das Bemühen nach einer perfekten Struktur, einem perfektem Ablauf, um doch zu scheitern. Dem fehlerlosen Perfekten das Unvermögen perfekt zu sein, entgegenzusetzen. Bewusstes Scheitern. Ich versuche zum Beispiel, Linien ganz exakt aneinander zu setzen. Man weiß von vornherein, das wird nicht funktionieren, doch genau das schafft die Lebendigkeit, den Spannungsmoment, welchen ich heute auch bewusst einsetze. Das Ergebnis zeigt die Schönheit dieses Unvermögens im Prozess.

U.S. Malen ist für mich eine Reibung mit Grenzen, den eigenen Beschränkungen, dem Nicht-Können. Über das Unvermögen hinaus auszuprobieren, Wege zu beschreiten, die neu sind. So ist das eigentliche Scheitern der Wegweiser. Ich habe gelernt, die Furcht vor dem Scheitern nicht mehr so ernst zu nehmen und mir zu vertrauen, bildnerische Lösungen zu finden.
Wenn ich mein Potenzial, meine Möglichkeiten ausschöpfen möchte, gilt es dafür Strukturen zu schaffen. In unserer Form von Gesellschaft geht schnell der Focus auf das Wesentliche, das Recht auf Entwicklung, im tiefsten menschlichen Sinne, verloren. Wir werden jeden Tag mit so vielen Geschichten konfrontiert. Das irrwitzige Ablenken durch Medien, Konsum und Überlebenskampf ist meiner Meinung nach ein enormer Energieverlust und ich frage mich, wie sich eine Gesellschaft diese Verschwendung an kreativer Energie leisten kann. Ich versuche sehr aufmerksam und ausdauernd zu sein, mich immer wieder in Ausrichtung und Konzentration zu üben. Meine Bilder sind eine Aussage. Ich möchte forschen, mich entwickeln, ausprobieren. Malerei ist ein Teil der Wahrnehmung des Lebens, meines Lebens. Ich kann Kunst nicht von mir trennen.

H.S. Spielt Schönheit in eurem Werk eine Rolle?

I.F. Natürlich.

U.S. Ja. Ein Lebensgefühl. Ein Gefühl, das sagt: Nimm das Leben an und drücke deine Gefühle aus. Ich habe über 10 Jahre in Frankreich gelebt. Das Schöne gehört zum Leben wie Liebe und Wachstum, Zerfall und Tod. Das ist Wandel, das ist Leben, eine Sache. In diesem Erkenntnisprozess entwickelt sich wahrhaftige Schönheit. Ein Bewusstwerden der Begegnung von Moment und Zeit. Ohne diese Tiefe bleibt Schönheit ein Moment und wird von der Zeit verweht – doch wenn in Schönheit dieses Wissen aufgehoben ist, hält sie der Zeit stand und überwindet und transformiert den Moment.

I.F. Die Gegenüberstellung unserer künstlerischen Positionen ist auch ein Sichtbarmachen unserer individuellen Unvollkommenheit. Zeit und Moment sind ebenso Gegenspieler, den einen kann es ohne den anderen nicht geben.
Mit dem Vorwurf des Ästhetischen habe ich mir, wie auch Ulrike, in der Berliner Kunstszene erst einen Platz schaffen müssen; vielleicht gilt die vorherrschende Meinung, Schönheit mangelt es grundsätzlich an Tiefe?

U.S. Schönheit hat etwas mit dem Menschen zu tun. Diesen Aspekt möchte ich in meine Arbeit integrieren. Und das ist etwas, was ich auch zutiefst in Ingos Arbeit wiederfinde, anders ungesetzt, natürlich, aber angelehnt an diesen Gedanken, an dieses Gefühl.
Neulich sah ich einen wunderbaren Film: Aragon, der Roman von Matisse von Richard Dindo. Matisse malte im größten Grauen, was Europa bisher erlebt hat, 1941, seine schönsten und zartesten Bilder und ich möchte Louis Aragon zitieren: „… durch alle Gewitter und Kriege hindurch, die Misere der Zeit, hat ein Mann während 60 Jahren, … uns vom Leben eine intensive Sicht gegeben, eine harmonische Sicht, mit einem beispiellosen Optimismus der Farbe. … von ihm bleibt das enorme Vertrauen in das Schicksal der Menschen, der Macht, die Düsternis zu überwinden, diese Bestätigung des Glücks.“

H.S. In Euren Werken scheint der leere Raum große Bedeutung zu haben. Könnt Ihr diesen Eindruck bestätigen?

U.S. Uns geht es beiden um die Wahrnehmung und die Einbeziehung des leeren Raums. Leere ist gleich Form, Form ist gleich Leere. Eine nur sinnlich wahrnehmbare Größe. Das ist formal gesehen unser Treffpunkt.

I.F. Die Leere, das Nichtbezeichnete, bestimmt die Zeichnung, der Strich ist nur ein Umriss.

U.S. Zu Beginn weiß ich nicht, wohin mich der Arbeitsprozess führt, beginne mit einem Klecks, einer Linie. Wie gehe ich auf einem Bild mit Formen, mit Massen, mit Linien und damit auch mit Raum um? Das Unbekannte spielt eine große Rolle, fasziniert mich. Der Werdeprozess beim Malen. Ich reflektiere durch meine Bilder unbewusst die Welt und wie ich sie wahrnehme. Und bin von ihnen überrascht. Ist das ähnlich bei Dir?

I.F. Mich interessieren Möglichkeiten, ich forsche nach Möglichkeiten. Das Bild ergibt sich aus dem Arbeitsprozess, aus der Tätigkeit als solche. Zu Beginn treffe ich eine Entscheidung, der ich folge. Gestik und Nachspüren im Prozess sind mir wichtiger als Bildideen. Eine Arbeit beginnt immer mit der Entscheidung für eine Strich- oder Linienführung.
Zeichnen ist für mich ein Abstreichen von Zeit, Strich für Strich für Strich. Ein Erleben, ein Nachvollziehen, ein Denken, Konstruieren, ein Forschen und ein Entdecken. Es erklärt mir die Welt, alles zeichnet sich eigenartig aus oder ab. Diesem spüre ich mit dem Stift, dem Strich nach – eine Art Spurensuche in der Landschaft, in der Natur. Von Makrokosmos zum Mikrokosmos und umgekehrt, suche und finde ich Grundlagen für meine Zeichnungen. Bei den Wandarbeiten zum Beispiel, taste ich mit dem Stift die Wand ab. Ein Entlangfahren, ein Beschreiben von Strecke und Raum.

H.S. Wie gestaltet sich Eure Zusammenarbeit, wenn Ihr in Berlin und im Ausland seid?

U.S. In Finnland war der Tages- und Lichtrhythmus ein anderer. Wir sind spät aufgestanden und haben bis in die Nacht gearbeitet. In Frankreich beginnen wir früh und sind in den Pausen draußen in der Natur. Das ist ein zeitlich begrenzter Idealzustand, der etwas mit dem Land zu tun hat. Es geht den ganzen Tag um die Arbeit, bis spät in den Abend, dann trinken wir im Atelier noch Wein vor unseren Bildern und sprechen darüber. Da kann Leben und Arbeit gleichzeitig stattfinden. Kreieren ist mein Leben, der ideale Raum für mich. Einfach nur Künstlerin sein. Hier in der Stadt fällt das schwerer.

I.F. Ich bin wirklich erstaunt, dass das gemeinsame Arbeiten funktioniert. Man lässt sich erst einmal in Ruhe. Das gegenseitige Beeinflussen findet nach und nach, ganz fein statt. Man kommentiert ja zwischendurch die Arbeit des anderen. Bei mir kommt es ganz direkt an, wenn ein Außenstehender sagt: das find ich gut, das gefällt mir oder lass mal so stehen. Das ist schon ein Einfluss-Nehmen. Und wir stehen ganz am Anfang in unserer Zusammenarbeit.

U.S. Ich bin sehr dankbar für dieses gegenseitige Interesse. In Berlin haben wir getrennte Ateliers. Es ist auch wichtig, dass jeder seinen eigenen Raum hat.

H.S. Wenn leben und arbeiten zusammen fällt, würdet ihr das als Idealzustand, als gelebte Utopie bezeichnen?

U.S. Ich glaube, dass Utopien immer zum Scheitern verurteilt sind. Susan Sontag sagte einmal: „… ich mag ich den Begriff Utopie nicht, sprechen wir lieber von Idealismus. Der totale Sieg des Kapitalismus hat viele alarmierende Konsequenzen, und eine davon ist die Zerstörung jeder Art von Idealismus.“ Ich glaube, dass die Entscheidung für Kunst etwas sehr Idealistisches ist. Und ich glaube, dass Ingo und ich von ganzem Herzen diesen Idealismus teilen und uns an diesem Punkt treffen. Für uns beide ist es von großer Wichtigkeit, Freiräume geistiger, wie auch materieller Art zu schaffen, die nötig sind, um Neues zu entwickeln, zu entdecken, zu denken. Diese Freiräume bedürfen der Entscheidung an den menschlichen und gesellschaftlichen Wert der künstlerischen „Forschung“ zu glauben, an die Möglichkeit von Schönheit, wie wir es bezüglich der Arbeit von Matisse schon ansprachen und einer immer wieder nötigen, ja radikalen Beschränkung auf das uns Wesentliche und auf unsere Authentizität.

H.S. Was fasziniert euch am Arbeiten an anderen Orten wie Island oder Frankreich?

I.F. Ganz genau weiß ich es nicht. Ich habe mich dort fein geerdet, sehr wohl gefühlt. Die Idee nach Island zu gehen, kam über meine Arbeit. Ich stellte fest, dass meine Zeichnungen etwas von Naturstudien haben, aber im Atelier entstanden sind. Ich wollte die Zeit studieren und das in der Landschaft überprüfen, seismographisch. Und Island ist unberührt, urwüchsig, Zeit spielt eine große Rolle; ich bin auf Entdeckungsreise gegangen, war allein unterwegs, habe Freundschaften geschlossen. Ein Jahr später bin ich wieder hin und habe überprüft, warum es mich fasziniert. Ich weiß es immer noch nicht genau.

U.S. Ich wusste genau, warum ich in Frankreich war. Die Weite, das Licht, diese feine, alte Kulturlandschaft der Bourgogne. Das Unzerstörte, was man auf Grund des Krieges hier in Deutschland nicht mehr findet. Ich habe das als sehr heilsam empfunden. Für mich spielt Landschaft, die Natur eine maßgebliche Rolle. Es geht um Schwingungen, Wahrnehmungen, die sich sehr direkt in meinen Arbeiten widerspiegeln. Wie Übersetzungen, man bemerkt, wo meine Bilder entstanden sind.

H.S. Was würdet ihr abschließend sagen?

I.F. Mir geht es im künstlerischen Arbeiten um die Anschauung, die muss eine Ruhe haben. Darin ähnelt sich unser Ansatz. Ulrikes Bilder strahlen, wie meine eigenen, Gleichmut, Ruhe, Balance aus.

U.S. Vielleicht ist das ja unser Grundthema, unsere Grundsehnsucht. Uns in die Stille zu begeben und Bilder als Gleichgewicht aus Bewegung und Ruhe zu schaffen. Hinter dem Bewegten steht ja immer die Ruhe. Wie im Leben, ein Aufzeigen der Dualität von Endlichkeit und Unendlichkeit.

I.F. Ich zeichne die Zeit, du malst den Moment.

2013, Dr. Heimz Stahlhut, Berlinsche Galerie, Berlin